Das Adjektiv „toll“ im Titel „La Folle Journée ou le Mariage de Figaro“ („Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro“) des Schauspiels von Beaumarchais, das Mozarts „Le nozze di Figaro“ zugrunde liegt, kannten unsere Eltern noch als gleichbedeutend mit „verrückt“. Daß der Lübecker „Figaro“ in unserem heutigen Verständnis nur „toll“ gewesen sei, wäre eine unangemessene Untertreibung. Diese Produktion in der Inszenierung von Stephen Lawless unter der musikalischen Leitung von GMD Stefan Vladar ist einfach großartig und wieder einmal hat das Theater Lübeck seinen Platz unter den erstklassigen Häusern der Republik weiter behauptet – in diesem Falle: mit rotem Samt ausgekleidet. Dazu später mehr, zuerst einmal muß eine jahrhundertealte Legende entkleidet werden.
Dieses schlüpfrige Verb ist angebracht, denn es handelt sich tatsächlich um das „jus primae noctis“, das den jeweiligen Grundherrn angeblich berechtigte, mit der Braut eines Untergebenen noch vor diesem die Hochzeitsnacht zu verbringen und das Graf Almaviva in der „Hochzeit des Figaro“ für seinen Herrschaftsbereich abgeschafft hat. Das vermeintliche Recht ist zu schimpflich um wahr zu sein und so stößt man als Kulturwissenschaftler tatsächlich lediglich auf zwei Schweizer Schriftquellen aus dem 16. Jahrhundert, in denen diese Klausel erwähnt wird. Es ist aber kein einziger Fall belegt, in dem von diesem „Recht der ersten Nacht“ tatsächlich Gebrauch gemacht wurde. Aber es eignet sich hervorragend zur literarischen und/oder musikalischen Verarbeitung, denn damit läßt sich kurz vor der Französischen Revolution eine Adelskritik aufgreifen, ohne Zensurgrenzen gefährlich zu überschreiten.
Diesen Aspekt hat Lawless aufgenommen, denn in der Vorbereitung der Hochzeit wird eine Guillotine durch den Raum geschoben, als finstere Vorahnung auf das, was die französischen Adeligen wenige Jahre später zu Tausenden den Kopf kosten sollte.
Eine für heutige Ohren harmlose, aber bei der Uraufführung 1786 ausgesprochen deutliche Adelsschelte verbirgt sich in der Arie des Figaro im ersten Akt, „Se vuol ballare Signor Contino“ – „Will einst das Gräflein ein Tänzchen wagen“, im Übertitel bei der Aufführung leider nicht korrekt übersetzt. Das Wort „Gräflein“ anstatt des statthaften „Erlaucht“ ist absolut despektierlich und exakt so haben das Mozart und sein Librettist Da Ponte auch gemeint, was der Lübecker Figaro mit dem Stinkefinger verstärkt.
Die glanzvolle Welt eines adeligen Hauses im Spätbarock erscheint hier in einer Art Rokoko-Minimalismus, durchweg als Kulisse erkennbar. Das Bühnenbild von Adrian Linford, der auch für die Kostüme verantwortlich ist, zeigt meist die fragmentierte Wand eines Landschaftszimmers, wie es gerade den Lübeckern aus Thomas Manns „Buddenbrooks“ vertraut ist. Die Drehbühne benötigt nur wenige Requisite und Möbelstücke, unter denen das Ehebett jeweils eine zentrale Rolle einnimmt – geht es doch in dieser Oper auch um die Frage, wie die Ehe als Instanz und die tatsächliche gegenseitige Liebe zueinander im Verhältnis stehen.
Die sehr traditionell gehaltenen Kostüme und Frisuren spielen mit Rokoko-Anleihen, wobei das nichtadelige Volk fast durchweg in zwar feinem, aber doch uniformem rotem Samt auftritt, während die herrschende Klasse sich eine individuelle Garderobe leisten kann.
Musikalisch ist dieser „Figaro“ von der ersten Note der Ouvertüre an rasant und frisch. Vladar macht Tempo, was auch straff gehalten wird, und das tut der Partitur sehr gut. Das Orchester spielt geschmeidig und quicklebendig; bei den in früheren Inszenierungen bisweilen eher zähen Rezitativen kommt niemals das Gefühl von Gleichförmigkeit auf, weil der Erste Kapellmeister Takahiro Nagasaki sie auf dem Hammerklavier mit leichter Eleganz und perligem, manchmal fast harfenartigem Klang begleitet.
Dazu gesellt sich sprachlich-sängerisch ein geradezu halsbrecherisches Tempo, aber alle Solistinnen und Solisten meistern dieses Prestissimo-Italienisch problemlos. So eine Komödie muß Zug haben und diesen vor allem bis zum Schluß durchziehen; hier wird klar, wie intensiv die Probenarbeit für diese Leistung gewesen ist.
Für Lebendigkeit sorgt auch eine sehr gute Personen- und Gruppenregie; Slapstick-artige schnelle Auf- und Abtritte im Spiel mit auf- und zuschlagenden Türen werden abwechslungsreich verbunden mit Tableaus, bei denen der rasante Ablauf genug an Innehalten erhält, um die wunderbare Musik zur Geltung zu bringen. Dafür sorgt auch das Licht von Falk Hampel – eigentlich scheinen lediglich drei Kronleuchter die Szenerie zu erhellen, aber der geschickte und sensible Einsatz der unterschiedlichen Strahler zaubert immer wieder völlig andere Atmosphären, Intimitäten und Öffnungen. Ein genialer Einfall ist es, bei Figaros Arie „Aprite un po’ quegli occhi“ – „Ach! öffnet eure Augen“, in der er sich an die Ehemänner der ganzen Welt richtet, den Zuschauerraum komplett zu erhellen, sodaß die Adressaten ihre besseren Hälften kritisch besehen können. Diejenigen, die sich besonders angesprochen fühlen, halten die Augen allerdings besser auf das Bühnengeschehen gerichtet…
Der Chor unter der Leitung von Jan-Michael Krüger ist hier zwar von der Besetzung her übersichtlich, aber stark und exakt, dabei voller jugendlicher Frische.
Ausnahmslos alle Solistinnen und Solisten liefern reife, wenn nicht erstklassige Leistungen ab. Andrea Stadel formt die anspruchsvolle Partie der Susanna facettenreich von zickig-kratzbürstig bis weibchenhaft-girrend und zeigt ein phantastisches Stimmspektrum. Florian Götz, der Gast-Figaro, behautet nicht nur seine Stellung, sondern definiert das Herr-Diener-Verhältnis neu. Von der Bühnenpräsenz und der Phrasierung her ist der Mann eine Wucht, an der man sich hoffentlich wieder auf dieser Bühne erfreuen wird können. Sein „Non più andrai, farfallone amoroso“ – „Dort vergiß leises Flehen, süßes Wimmern“ hatte er bereits in der Soirée am 16. Januar vorgestellt und szenisch gewann das noch an Schärfe und Farbvielfalt, zumal mit dem Marsch-Thema, bei dem der arme Cherubino sichtbar Angst vor dem militärischen Drill bekommt. Diesen liebes-sehnsüchtigen, aber hin- und her geschubsten Pagen gibt Laila Salome Fischer ebenso charmant wie spitzbübisch. Bei ihrer Arie „Voi che sapete che cosa è amor“ – „Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt“ kommen auch eingefleischten Mozart-Muffeln die Tränen, so herzinnig und voll fein geformter Tonschönheit gibt sie dem frischen Liebesempfinden des Knaben mit eigenen, klingenden Rocaillen-Verzierungen wärmsten Ausdruck.
Von ganz anderem Kaliber ist Graf Almaviva, der seine Machtstellung ausnutzt, weil er einfach selbstverliebt und gierig ist. Jacob Scharfman schafft es mit seinem fülligen, starken Bariton, den feinen Herren zwar immer wieder wie eine Witzfigur aussehen zu lassen, aber er läßt keinen Zweifel daran, daß von ihm dennoch eine Gefahr ausgeht, wenn man sich ihm widersetzt.
Seine Gemahlin ist – ebenfalls ein Gast – Joo-Anne Bitter, die bei all dem Verwirrspiel immer ganz edle Dame bleibt. Ihr Briefduett mit Susanna ist musikalisch und vor allem stimmlich einer der schönsten Momente des Abends.
Virginia Felicitas Ferentschik aus dem Opernstudio spielt sehr liebenswert eine lebensfrohe Marcellina und Rùni Brattaberg gibt den Doktor Bartolo mit sattem Baß und bewährtem komödiantischem Talent. Das gilt ebenso für Steffen Kubach als Gärtner Antonio, der auch dieser kleinen Rolle ein wunderbares spaßiges Gewicht verleiht.
Noah Schaul scheint seit der Lübecker „Fledermaus“ die Rolle des Gesangs- bzw. Musiklehrers gebucht zu haben, aber dieser Sänger ist ungeheuer wandelfähig und so gibt er als Basilio mehr als nur eine amüsante Figur ab, Spiel und sängerische Leistung sind harmonisch ausgewogen.
Von zauberhafter, intimer Schönheit ist die Cavatine der Barbarina, „L’ho perduta… me meschina!“ – „Unglücksel´ge, kleine Nadel“. Nataliya Bogdanova verhilft dieser Nebenrolle zu einem Glänzen voller inniger Traurigkeit und wahrhaftig empfundenem Schmerz. Hier geht es mehr als nur um eine verlorene Nadel, das ist eine als existentiell wahrgenommene Verletzung.
Gerade in den beiden letzten Akten nimmt diese Produktion noch einmal Fahrt auf, was durch reichlich Szenenapplaus, der auch schon seit den ersten „Nummern“ oft zu hören ist, vom begeisterten, lachenden Publikum bestätigt wird. Die Zitate aus der „Kleinen Nachtmusik“ und der Champagnerarie aus „Don Giovanni“ hätten auch Mozart gefallen, so etwas verstärkt die Leichtigkeit, die doch so schwer zu erreichen ist.
Umso mehr gebührt dem gesamten Ensemble, dem Orchester und seinem Dirigenten sowie einem einfallsreichen Regisseur der langanhaltende Applaus, der schnell die entflammten Lübecker von den Sitzen reißt.
Dr. Andreas Ströbl, 28. Januar 2023
Wolfgang Amadeus Mozart: Die Hochzeit des Figaro
Theater Lübeck
27. Januar 2023
Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Inszenierung: Stephen Lawless
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Chor des Theaters Lübeck
Nächste Vorstellungen: 4. und 17. Februar sowie 3. März.