Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.
Nach dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen blicken wir heute auf das Stadttheater Gießen.
Beste Produktion (Gesamtleistung):
Xerxes: Originell, witzig, abwechslungsreich und musikalisch rund.
Größte Enttäuschung:
Der öko-kitschige Kopfhörer-Spaziergang als Einleitung zu Curlew Love Songs. Als Zutat zum starken Hauptteil überflüssig.
Beste Gesangsleistung (Hauptpartie):
- Ensemble: Grga Peroš als Rigoletto. Hier ist ein Sänger mit saftigem Bariton herangereift, den bald auch größere Bühnen entdecken werden. Schön, daß die Gießener Intendanz ihm und seinem Publikum die Filetstücke des Repertoires gönnt.
- Gast: Ronan Collett als Fährmann in Curlew River, der sich mit kernig-virilem Bariton gut zu den starken Ensemblemitgliedern gefügt hat.
Beste Gesangsleistung (Nebenrolle):
- Ensemble: Jana Marković als Olga in Eugen Onegin. Als Mezzosopran mit warmem Timbre hat sie auch die Alt-Tiefen souverän gemeistert.
- Gast: Polina Artsis als Amastris in Xerxes. Urkomisch als singender Baum mit klangsattem Mezzo.
Bestes Dirigat:
Vladimir Yaskorski für Xerxes. Er hat die Kompetenz des Gießener Orchesters in Sachen historisch informierte Aufführungspraxis zur Präsentation eines knackigen und sehr farbigen Barocksounds genutzt.
Beste Regie:
Philipp Grigorian für Xerxes.
Bestes Bühnenbild:
Lukas Noll für Eugen Onegin.
Beste Chorleistung:
Der Frauenchor in Curlew Love, der das in den Kirchenbänken sitzende Publikum von der Empore herunter wie ein sanfter, warmer Sommerregen mit Cymin Samawaties Klängen berieselt hat.
Größtes Ärgernis:
Respektlose Schwatztanten (m/w/d) im Gießener Publikum, die in jeder der besuchten Aufführungen ungerührt in die Ouvertüren und Zwischenspiele hinein weiterquatschen und gerne bei laufender Musik mit dem Sitznachbarn das Bühnengeschehen kommentieren.
Die Bilanz zog Michael Demel.