Hannover: „Parsifal“, Richard Wagner

Seit der letzten „Parsifal“-Inszenierung (von Intendant Hans-Peter Lehmann) sind über 40 Jahre vergangen, bis sich das Haus jetzt aufs Neue an das große, immens rätselhafte Werk gewagt hat. Die Neuinszenierung von Thorleifur Örn Arnarsson, der erklärtermaßen „Parsifal“ neu denken wollte, hat die vielen Rätsel des Stücks nicht gelöst, sondern noch einige hinzugefügt. So hat der isländische Regisseur konsequent alle Symbolismen und Gerätschaften, wie sie im Libretto beschrieben werden, weggelassen. So gibt es keine „Enthüllung des Grals“; stattdessen schwebt Amfortas über einem Wasser-Bassin, aus dem sich eine hornhelmbewehrte (?) Männer-Gesellschaft in grauen Straßenanzügen Heilung erwartet. Die Segens- und Salbungshandlungen im 3. Aufzug gibt es nicht; allein der „heilige Speer“ ist als knorriger Holzstab vorhanden. Überhaupt die Bäume (Bühne: Wolfgang Menardi): Wenn sich der Vorhang glücklicherweise erst nach etwa 2/3 des Vorspiels hebt, sieht man auf verbrannte Baumstämme, an denen irgendwelche Energie spendenden (?) Schläuche befestigt sind. Auch werden sie von den Knappen, den Gralsrittern und anderen mit Zeichen versehen, die man nicht erkennen kann. Am Schluss des 1. Aufzugs werden die Bäume hochgezogen und spielen keine Rolle mehr.

Michael Kupfer-Radecky/Chor
© Sandra Then

In allen Aufzügen gibt es rote digitale Zeitmessungen, die mit 0,00 Null beginnen, bei „Enthüllung des Grals“ nur noch flimmern, im 2. Aufzug eine Weile rückwärts laufen und im 3. Aufzug auf dem Kopf stehen Erst ganz am Schluss fängt sie wieder bei 0,00 an. Außerdem gibt es in jedem Bild ebenso nervig rot flimmernde Spruchbänder mit englischen Wörtern wie „hope“, pray“, „serve“, „executive“ und vielen anderen; im 3. Aufzug kann man nichts mehr entziffern, weil es Spiegelschrift ist oder auch auf dem Kopf steht. Was soll das alles?

Klingsors „Zaubergarten“ ist ein kalt wirkender weißer Bühnenraum mit mehreren weißen Quadern. Hier bewegen sich die Blumenmädchen, die einheitlich in beige, durchsichtig scheinende Umhänge gekleidet sind; bei allen wird der Eindruck erweckt, dass man Brüste und Schamhaare sieht. Erotisch wirkt das überhaupt nicht; zudem ist es lachhaft und albern, wenn die Frauen vergeblich versuchen, Parsifal die Hose auszuziehen – in diesen Szenen muss man sich an den Gesang halten, der den Solistinnen und Chordamen geradezu betörend gelingt.

Eine weitere Idee der Regie ist es, Parsifal dreifach auftreten zu lassen: Von Anfang an sieht der Sänger des Parsifal dem Geschehen vor seinem eigentlichen Auftritt vom Bühnenrand aus zu. Als vom getöteten Schwan gesungen wird, erscheint er mit einem offenbar bewusstlosen Jungen, den er am Rand des Bassins ablegt. Zuerst wird der Junge als der Schwan angesehen, bis er sich erhebt und als „junger Parsifal“ auf die Fragen Gurnemanz‘ nach seiner Herkunft mit Achselzucken reagiert. Im 3. Aufzug tritt ein älterer Statist mit Hornhelm an die Rampe, der sich als „alter Parsifal“ entpuppt und im weiteren Verlauf kaum noch etwas zu tun hat. Erst nach der „Erlösung“ durch den singenden Parsifal führt Kundry die drei zusammen, von denen ganz am Schluss der Junge auf der völlig leer geräumten Bühne übrig bleibt – die Jugend ist unsere Hoffnung??

Noch ein Wort zu den teilweise auch rätselhaften Kostümen von Karen Briem und  Andri Hrafn Unnarson, einem in Opernhäusern wohl wirklich erstmalig tätigen Nachhaltigkeitsdesigner:  Siehaben den Versuch gemacht, ressourcensparend zu arbeiten, indem die Anzüge aus dem Fundus des Hauses stammen. Sie sind an etlichen Stellen aufgeschlitzt, und aus deren Innerem quellen farblich abgesetzt Stoffe und geschmolzene Kunststoffe, wohl als Zeichen für Verletzungen.

Irene Roberts/Michael Kupfer-Radecky            
© Sandra Then

Was die Musik angeht, erlebte man einen im Ganzen gesehen gelungenen  Premierenabend. Das lag vor allem an der umsichtigen Leitungdes GMD Stephan Zilias, der das in allen Instrumentengruppen ausgezeichnete Niedersächsische Staatsorchester Hannover mit klarer Zeichengebung zu Bestleistungen anspornte. Gab es bei dem sehr ruhig genommenen Vorspiel noch wenige uneinheitliche Holzbläsereinsätze, steigerten sich alle im Laufe des langen Abends zu runden, abgewogenen Klängen, die aus dem Graben eine sichere Stütze für die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne waren. Im 1. Aufzug erschien mir der Wechsel der ansonsten klangmächtigen Chöre auf der Bühne mit denen aus dem Off (Chor und Extrachor: Lorenzo Da Rio, Kinderchor: Tatiana Bergh) nicht ganz geglückt, weil die so genannten Höhenchöre zu schwach klangen. Von den berückenden Gesängen der Blumenmädchen war schon die Rede.

Marco Jentzsch/Irene Roberts
© Sandra Then

Das Solistenensemble der Premiere zeigte insgesamt hohes Niveau: Zunächst ist die US-Amerikanerin Irene Roberts von der Deutschen Oper Berlin zu nennen, die eine Kundry der Extraklasse gab. Bei der intonationsreinen Führung ihres volltimbrierten Mezzo durch alle Lagen stimmte alles, von wunderbarem, einschmeichelndem piano bis zu höhensicheren dramatischen Ausbrüchen. Gerade durch ihre Auseinandersetzung mit Parsifal wurde der 2. Aufzug das musikalische Ereignis der Premiere. Dazu trug allerdings auch Michael Kupfer-Radecky aus dem hannoverschen Ensemble bei, der den Klingsor, wie ein Zauberer im Märchen gekleidet, stimmkräftig und mit bester Textverständlichkeit gab. Sein klarer, in allen Lagen gut ansprechender Bariton passte auch zum Amfortas, den er mehr psychisch als physisch krank gestaltete. Dass ein und derselbe Sänger beide Partien darstellte – übrigens nicht neu –, fand in der Regie so recht keinen Rückhalt. Für die Titelpartie kehrte Marco Jentzsch nach Hannover zurück, wo er vor etlichen Jahren zwei Spielzeiten Ensemblemitglied war. Er gab einen nicht unsympathischen, nachdenklichen Parsifal, dessen Mitleiden mit Amfortas dadurch besonders glaubhaft wurde, dass er sich selbst mit dem Speer eine blutende Wunde zufügte. Sein heller Tenor ist deutlich stärker geworden, den er sicher und durchaus strahlkräftig zu führen wusste. Weniger gefiel manche Unruhe bei länger ausgehaltenden Tönen. Gurnemanz war Shavleg Armasi, eigentlich Bass-Säule des hannoverschen Ensembles, der erstaunlich blass blieb, vielleicht Folge der nicht immer verständlichen Regie. Mit dem Text und auch der stimmlichen Bewältigung der nicht einfachen Partie hatte der erfahrene Sänger manche Schwierigkeiten. Mit voluminösem Bass gab Daniel Eggert Titurel, abenteuerlich kostümiert mit langem Rauschebart und großen Widder-Hörnern. Philipp Kapeller und Markus Suihkonen ergänzten als Gralsritter; ausgesprochen klangschön präsentierten sich die Knappen Ketevan Chuntishvili, Freya Müller, Marco Lee und Pawel Brozek. Die solistischen Blumenmädchen waren Ketevan Chuntishvili, Meredith Wohlgemuth, Marta Wryk, Mercedes Arcuri, Dahye Kang und Freya Müller.

Am Schluss gab es für alle Mitwirkenden einschließlich der Techniker, die auf offener Bühne diese für die Schlussszene leer zu räumen hatten, begeisterten, lang anhaltenden Applaus, in den sich beim GMD und dem sich auf der Bühne zeigenden Orchester unverständlicherweise wenige Buhrufe mischten. Auch das Regieteam musste sich einige Missfallenskundgebungen gefallen lassen.

Gerhard Eckels 25. September 2023


„Parsifal“ Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner
Staatsoper Hannover
Premiere am 24. September 2023

Inszenierung: Thorleifur Örn Arnarsson
Musikalische Leitung: Stephan Zilias
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover