New York: „Tannhäuser“, Richard Wagner

Bitte nicht niesen!

Die Metropolitan Opera New York staubt ein lebendes Fossil ab: Otto Schenks Tannhäuser, ein Schmuckstück von Inszenierung, das sich nahtlos einreiht in die Tradition der Beliebtheit dieses Werks an dem größten Opernhaus der Welt. Nach der ersten Tannhäuser-Aufführung an der Met im Jahr 1884 wurde das Werk dort mittlerweile fast fünfhundert Mal aufgeführt. Und vermag immer noch Interessierte gekleidet von Abendkleid bis Camouflage Pulli – man ist immerhin in New York, wo Tradition gleichzeitig alles und nichts bedeutet – auf die knapp viertausend Sitze im Haus zu locken.

(c) Evan Zimmerman / Met Opera

Denn: Schenks bierernster Ultra-Realismus, der manchen Opern besser bekommt als anderen, bietet für das Auge höchst Opulentes (Bühnenbild: Günther Schneider-Siemssen). Höhlenartige Grüntöne vervollständigen das eindrucksvolle Bühnenbild einer Liebesgrotte, in welcher Tanzende in fließenden Gewändern die Erotik des dortigen Geschehens andeuten, freilich ohne dabei zu deutlich zu werden. Die dortige Hausherrin, Ekaterina Gubanovas Venus, ist eine Frau, die nichts zu fürchten hat. Sie zürnt, verführt und fleht, doch Hysterie ist ihr ein Fremdwort, gerade in den Höhen der Stimme. Ihre derzeitige Paraderolle erfüllt die Russin hier mit Ruhe, mit Selbstbewusstsein ohne Überspitzung, weder stimmlich noch darstellerisch, und bietet ein geschicktes Pendant zur Elisabeth.

Die halbrunde „teure Halle“ des zweiten Aktes imponiert mit alten Holzbänken und großflächiger mittelalterlicher Wandmalerei sowie hinreißenden Kostümen der Edlen (Kostümdesign: Patricia Zipprodt). Landgraf Hermann (Georg Zeppenfeld) bietet in seinen Räumlichkeiten einen edlen, dunkel polierten Bassklang; die spärliche Orchestrierung der Rolle zwingt ihn nie zu überbordender Lautstärke, was die Schönheit der Stimme umso besser unterstützt und ihn ganz für sich stehen lässt. Die Inszenierung scheut keine Mühen: die Fanfaren während des Einzugs der Gäste erschallen von kostümierten Musikern auf einem hohen Balkon des Bühnenbilds. Die Außenwelt des dritten Aktes säumen dagegen nur kahle, öde Bäume und totes Laub. Es grünt ausschließlich die Beleuchtung – fahlgrünes Licht deutet an, dass die Venusgrotte nicht fern ist, hier, ausgerechnet auf dem Pilgerpfad, auf dem Tannhäuser wandelt. Und siehe da: Durch geschickte Nutzung hüllender Vorhänge tun sich im Hintergrund der Szenerie Ausbuchtungen der Venusgrotte auf.

(c) Evan Zimmerman / Met Opera

Der Wandler zwischen diesen Welten, Andreas Schager als Tannhäuser, tönt im ersten Akt immer wieder kraftvoll mit seinen charakteristisch laut schneidenden hohen Noten. Die Vokale sind dort zwar nicht immer ganz sauber – manches E wird zu A, manches U zu O – doch er bietet erfreulicherweise durchweg hinreichende Flexibilität. Dass sich diese Phrasierung jedoch erschöpft, zeigt der letzte Akt: ein leicht indisponierter Klang gesellt sich in die Höhen und würgt manche Satzanfänge, zumal man sich nach den dramatischen Ereignissen in Rom eine spannendere, variantenreichere Phrasierung für diesen Charakter wünscht. Als sonst findiger Darsteller bleibt Schager meist unterfordert. Weiterhin gibt in der mittelalterlichen Welt Maureen MacKay einen spielerisch-faulen „Bub“ mit der Schalmei als Junger Hirt und unter den Minnesängern Le Bu einen wahrlich grimmen Biterolf, stark und leicht bassig.

Weniger Wandler zwischen den Welten und mehr Zuschauer dessen ist Christian Gerhahers Wolfram, der bewundernswert häufig in dieser gestenarmen Inszenierung genau die richtigen trifft. Bei Gerhahers längst überfälligem Met-Debüt lauert ordentlich Persönlichkeit unter dem schweren Mantel. „Als du in kühnem Sange uns bestrittest“ wird fast bissig, ansonsten bleibt er außerordentlich geschmeidig und durchdringend – ein Sänger, der es gewohnt ist, nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Kunst im piano zu leben und von dort aus das Publikum zu bannen. Seine klare Lautstärke lässt er dennoch segeln, um den erschöpfungsirren Tannhäuser wieder auf die Welt zu holen, aus der er gleich scheiden wird.

(c) Evan Zimmerman / Met Opera

Elza van den Heever steuert als Elisabeth einen Klang wie von fließender Seide bei, schimmernd und licht, doch auch belastbar und wohlkontrolliert – diese außergewöhnliche Schönheit des Rollendebüts erntet verdienten Jubel. Erstklassig spielt ihre Stimme mit den Holzbläsern zusammen, während sie Tannhäusers Leben verteidigt, wenngleich die Inszenierung Gefahr läuft, ihr übermäßige Theatralik abzuverlangen. Weder zynisch noch naiv gibt sie die wohlerzogene junge Frau mit gewissem innerem Weitblick – auch einer theologischen Intelligenz, will man sagen – und wandelt später heilig schwebend in weißen Gewändern durch die grünlich-fahle Welt zwischen Dämmerung und Sünde, den Zeigefinger ausgestreckt wie die Engel, die marmorweiß auf Gräbern weilen.

Diese Ästhetik betört. Weniger ihre Menschlichkeit: In Nähe zur Zerrissenheit einer Seele kann man sich nicht verlieren. Häufig nimmt sich die Inszenierung derart ernst, dass sie nur einen Stolperer über ein bodenlanges Minnesängergewand entfernt ist von einer Komik, die ihr gar nicht bekäme. Man bedenke: Ein Libretto ist keine Bedienungsanleitung für einen Mikrowellenofen. Demzufolge ist es vermutlich auch nicht zu lesen wie ein Dokument, das (fast) jede erdenkliche Schwierigkeit schildert und die genauen Bewegungen, die zu befolgen sind, um sie zu lösen. Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Personenregie bei der Wiederaufnahme keinen Halbschritt weiter als die groben Regieanweisungen des Librettos dachte: Stehen, Setzen, In-die-Saiten-greifen, wieder Stehen.

(c) Evan Zimmerman / Met Opera

Es ist äußerst fraglich, ob dies nun wirklich der Dienst am Komponisten ist, die große „Verteidigung“ gegen die aufdringliche Moderne, als die man es handeln könnte. Denn in genau dieser hochgetreuen Befolgung der Libretto-eigenen Anweisungen, dieser vollkommenen Nicht-Kritik, entblößt die Regie schier versehentlich die Schwierigkeiten eines Werks: dass im dritten Akt Stehen-Sitzen-Harfeklimpern eben in unserem heutigen, unwiderruflich veränderten Verständnis von darstellendem Spiel kaum zur Rührung ausreicht. Dass der Tannhäuser zu szenischer Statik trotz brisanter Geschichte neigen kann, sowie die Marotten Richard Wagners bedient. Sogar der konservative Met lässt sich da im Programmheft zu Augenzwinkern hinreißen: Die Oper teile Merkmale mit anderen Wagneropern wie „einen Helden erlöst durch den Eingriff einer aufopferungsvollen Frau (die günstigerweise ohne Erklärung am Ende der Oper dahinscheidet)“, die in dieser Inszenierung getreu abgebildet werden. Das alles unabhängig der Tatsache, dass die Anwesenheit traditioneller Operninszenierungen auf der Bühne stets Berechtigung hat, holen diese Inszenierungen doch ein Fenster zur Vergangenheit zu uns, in das wir hineinspähen dürfen. Die, die vor uns kamen, strecken durch dieses Fenster die Hände nach uns aus und bieten uns durch die Zeit ein Bindeglied zu ihnen.

Der Schotte Sir Donald Runnicles leitet das Metropolitan Opera Orchestra durch einen insgesamt weichen, ausgewogenen Klang. Würdevoll tönt es aus dem Graben, und das sehr durchdacht, nie aufreibend, nie unbeherrscht – eine gelegentliche Aufregung gezeichnet von präzisen Strichen. Immer wieder besticht der Klang durch geschickt austarierte Balance zwischen den Akteuren, wie in der Minnesänger-Szene des ersten Aktes. Hier verkommt nichts zu akustischer Suppe, nicht einmal im Finale, wenn sich Wolfram, Tannhäuser und die Venus stimmlich um die Aufmerksamkeit balgen. Ein überraschend zackiger Einzug der Gäste verkündet auch den Einzug einer gewissen Lebensfreude, ganz leichtfüßig dann das skandalöse „Dir, Göttin der Liebe“ im Sängerwettstreit. Das Ende der „Abendstern“-Arie wird hingegen düster ausgespielt mit immer ominös-dunkler werdenden Harfenklängen, bevor die Blechbläser die Ankunft des heillosen Pilgers verkünden. Das ist kunstvoll, doch nicht überkandidelt. Nur am Ende darf es schallen: „Hoch über aller Welt ist Gott, und sein Erbarmen ist kein Spott!“ singt der weibliche Teil des Metropolitan Opera Chorus aus vollem Halse, kräftig und körperlich der Klang, deutlich das Wort, dazwischen das Orchester, mittendrin die Arme des Maestros. Man ist geneigt, das direkt zu glauben.

(c) Evan Zimmerman / Met Opera

Am Ende muss sich auch jeder, der Inszenierungen bespricht, darüber gewahr sein, dass sein gesprochenes Wort so viel über ihn selbst sagt wie er über die Inszenierung. Die Augen, mit der wir eine Inszenierung anblicken, blicken direkt zurück, einem Spiegelbild gleich, und zeigen uns die Zeichen der Zeit, was wir waren und was wir nun sind, was wir suchen und vermissen. Einst saß ich selbst, vierzehn Jahre alt und bis dato wagnerfremd, in genau dieser Inszenierung – zu den mythischen Zeiten, da Johan Botha noch lebte (und vor meinen Augen den Tannhäuser sang). Die Brücke zu einem früheren Selbst gerät manchmal brüchig; wir wissen alles über uns und doch wird unser damaliges Ich schüchtern und fremd vor unserem Herzen. Doch erkennt man seine eigenen Augen voller Wunder wieder, die zwischen den Brokatmänteln huschten, und die gespitzten Ohren in der Geräusche Flut. Zwischen unserem Damals und unserem Jetzt zeichnen sie eine dünne Linie. Möge Otto Schenks Fenster zur Vergangenheit auch der jungen Generation dienen. Möge auch in dieser Vorstellungsserie eine neue Generation zum ersten Mal Wagner erlebt haben.

Lynn Sophie Guldin, 25. Dezember 2023

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


Tannhäuser
Richard Wagner

MET New York

Besuchte Vorstellung am 16. Dezember 2023
Premiere am 22. Dezember 1977

Regie: Otto Schenk
Bühnenbild: Günther Schneider-Siemssen
Musikalische Leitung: Donald Runnicles
Orchester der Metropolitan Opera