Essen: Ihr Kinderlein kommet!

Premiere 24.Oktober 2015

„Nussknacker“ & „Rattenkönig“ als ein großes Familien-Event
Putzig-zuckrige Weihnachtsrevue für Kinder

Jaja die Weihnachtsbäckerei… Alle wichtigen Weihnachtsmärkte beginnen schon im November, weil die Menschen halt heimelige Folklore, Rummel mit Kinderkarussels, Weihnachtsstimmung, leckere Plätzchen aus Holland, Lebkuchen aus Aachen und Lametta-Atmosphäre so sehr lieben.

In Dortmund z.B. wird bald wieder Deutschlands größter Weihnachtsbaum herrlich illuminiert zu bestaunen sein. In der Tat könnte man im Ruhrgebiet fast schon eine Städtetour machen, ohne diesen gigantischen Weihnachtsmarkt je zu verlassen; alles hängt irgendwie zusammen. Das ist schön. Das freut die Menschen und bringt Familien dazu, endlich einmal wieder glückselig, etwas zusammen zu unternehmen – gemeinsam irgend wo hin zu gehen.

In Essen begann der Weihnachtsmarkt allerdings trauriger Weise ohne Plätzchenverkauf bereits gestern am 24. Oktober im Aalto Theater der Zechenstadt: in einer putzigen Glitzerrevue mit veritablen, sich gelegentlich sogar bis auf fünf Meter ausfahrenden Kunst-Weihnachtsbaum. Fantasialand und Traumschiff sind auf bunter Bühne angesagt. Schneeflöckchen Weissröckchen… es glitzert überall, alle tanzen mit dazu Extra- und Kinderballette. Eine solch aufwendige Inszenierung ist auch Fleissarbeit und geht sicherlich an die Grenzen des Machbaren eines Theaters.

"Es gibt genug Probleme auf dieser Welt" sagt Ballettchef Ben Van Cauwenbergh und definiert sein Ziel klar und deutlich: "Ich möchte vor allem mit unserer neuen Produktion Kinder ins Theater holen und sie begeistern. Daher wird unser Nussknacker auch ein Familienevent sein." Und in der Tat ähnelt Cauwenberghs Konzept dem unzähliger Ballettschulen im Lande, die in ihren jährlichen Produktionen für Omis, Tanten, Neffe, Schulkameraden, Freunde, Geschwister und Eltern an eben diesem schönen Tschaikowski "Nussknacker" orientieren.

Nettes Accessoire für die erwachsenen TV-Fans ist natürlich der Butler James aus Dinner for One, den wir doch alle so gut kennen – hier in Form des Hausdieners Tomas Ottych. Selbstverständlich darf auch die Slapstick-Stolperfalle, das legendäre Bärenfell nicht fehlen. Ich hätte mir auch noch diverse Loriot-Gags gut vorstellen können, die ja heute (ewiger Humor) immer noch für Lacher sorgen. Ottych macht das natürlich wunderbar und bekommt den meisten Beifall, wenn er sich auch noch als Familienfotograf betätigt und überrascht beim Blitzlicht "plumps" auf seinen Allerwertesten fällt. Ja, das ist lustig, das macht Spass und begeistert nicht nur Kinder, sondern erfreut auch das ältere Premieren-Publikum.

Überhaupt ist dies eine Produktion, die das erlesene Abendpublikum unisono begeisterte, wird doch überwiegend im klassischen Rahmen von Marius Petipa auch der Spitzentanz nicht vernachlässigt. Im großen Divertissement des zweiten Teils, welches applausfreudige Besucher meist besonders erfreut, weil man quasi alle zwei Minuten klatschen kann, wird auch in Essen jede Nummer des Reigens eifrig bejubiliert; man klatscht auch öfter enthusiasmisiert mitten in die Musik hinein. Da sieht man das Cauwenbergh mit seinem Team (Bühnenbild/Projektion Bill Krog, Kostüme Dorin Gal, Filmprojektion Aldo Gugolz) mit dieser Präsentation von Tanznummern eigentlich genau das Herz des Essener Ballettpublikums getroffen hat.

Der Aufwand ist gigantisch, die Kostüme sind prachtvoll; wenngleich die riesigen, teils bewegten Projektionen doch gelegentlich etwas vom Tanz ablenken; außerdem ist die im HD-K4-Zeitalter doch recht grob aufgelöste Projektion nicht das Mass der Dinge an einem Haus mit sonst brillanter Technologie. Irgendwie zu groß, zu bunt, von allem Zuviel des Guten – Bilder als wären wir in Dahl/Burtons Charly und die Schokoladenfabrik. Hier hätte vielleicht weniger mehr sein können. Manchmal erdrückt der gigantische Aufwand fast den Tanz und der Überblick geht verloren.

Kapellmeister Yannis Pouspourikas evoziert aus dem Graben mit den Essener Philharmonikern einen wohltuend kultivierten Tschaikowski-Sound. Die bewährten Solisten erfreuen neben den großen Ensembles (teilweise in schwanenensee-weißen Tutus) Herz und Seele eines nach solchen Tanzabenden anscheinend geradezu lechzenden Publikums. Wahrscheinlich könnte man bis Weihnachten auf Oper im Aalto ganz verzichten und diesen Nussknacker en Suite spielen. Die Nachfrage wäre sicherlich vorhanden und würde Tanzfreunde aus Nah und Fern anziehen (besonders natürlich aus Düsseldorf/Duisburg wo es ja keine Handlungsballette mehr gibt 🙂 und die Aalto-Einnahmestatistik schösse beträchtlich nach oben.

Jenen an alternativen Konzepten interessierten Nussknacker-Fans möchte ich von ganzem Herzen die (von uns sogar zusätzlich mit dem raren OPERNFREUND-Stern ausgezeichnete) Tanztheater-Produktion des Nussknackers vom Nachbarhaus in DORTMUND unbedingt ans Herz legen. Zwischen der Aalto-Version Cauwenberghs und der von Benjamin Millepied (Ballettchef der Pariser Oper) liegen Welten! Aufgrund ihrer Zeitlosigkeit kann man die Dortmunder Inszenierung sicherlich auch noch nach Weihnachten, wahrscheinlich das ganze Jahr über prachtvoll genießen; sie ist eben nicht weihnachtsstimmungs-abhängig. Es nussknackert also überall.

Peter Bilsing 25.10.15

Die schönen Fotos sind von Bettina Stöss

CREDITS

Choreographie Ben Van Cauwenbergh

Musikalische Leitung Yannis Pouspourikas

Bühnenbild und Projektion Bill Krog

Kostüme Dorin Gal

Filmprojektion Aldo Gugolz

Dramaturgie Markus Tatzig

Orchester Essener Philharmoniker

Kinder des Ballettstudios Roehm (Ltg. Cheryl & Jeremy Leslie-Springs)

Tänzer und Tänzerinnen des Gymnasiums Essen Werden

Kinder des Aalto Kinderchores

Damen des Aalto Jugendchores und des Extrachores

Solisten:

Yanelis Rodriguez (Louise)

Breno Bittencourt (Karl)

Moises Leon Noriega (Drosselmeier)

Viacheslavv Tyutyukin (Fritz)

Lauro Kubicko (Clara)

Maria Lucia Segalin (Frau Rattenstein)

Nour Eldesouki (Herr Rattenstein)

Wataru Shimizu (Herman)

Yulia Tsoi (Frau Stahlbaum)

Denis Untila (Herr Stahlbaum)

Tomas Ottich (Hausdiener James)

Mariya Tyurina (Schneekönigin)

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Carolina Boscan (Spanischer Tanz)

Xiyuan Bai / Nour Eldesouki (Arabischer Tanz)

Kinder des Balletstudios Roehm (Chinesischer Tanz)

Elisa Fraschetti, Yuki Kishimoto, Mariya Tyurina (Rohrflöten)

Wataru Shimizu (Russischer Tanz)

Niwarin Gad, David Jeyranyan, Artem Sorochan (Kavaliere)