Buchkritik: „Jenseits der Vernunft“, Karol Berger

Erst kürzlich behauptete Elisabeth Fuchshuber-Weiß in ihrem Buch über die NS-Geschichte des Münchner Wagner-Verbands, dass die Thesen zur Form Richard Wagners, die Alfred Lorenz vor bald 100 Jahren in seinen Analysen der reifen Opern Richard Wagners aufstellte, umstandslos mit dem NS-Ordnungs- und Führerprinzip verbunden werden könnten. Alfred Lorenz hatte es unternommen, dem Vorwurf der Formlosigkeit in Wagners Werken mit einer genauen Betrachtung eben jener von ihm, Lorenz, entdeckten Formen entgegenzutreten. Lorenz‘ Abhandlungen waren lange Zeit das non plus ultra der musikwissenschaftlichen Wagner-Forschung, bis Carl Dahlhaus, der wie kein zweiter die deutsche Musikwissenschaft nach dem 2. Weltkrieg prägte, die vermeintlichen Nachweise cum grano salis als haltlos abtat. Lorenz hatte das „Geheimnis der Form“ nämlich nicht in den großen, akt- und werkbildenden Strukturen, sondern in den kleinsten „Perioden“ ausgemacht, die allzu oft völlig willkürlich mit den tatsächlichen Befunden umsprangen. Doch obwohl Dahlhaus sich außerordentlich oft mit Wagners Formen und seiner Kunst, sein Material auszubreiten, befasste, verblieb auch er meist im Mikro-Bereich; selten genug, dass er eine ganze Szene interpretierte.

Die Aufgabe, die Großform bei Wagner herauszuarbeiten und auf die Dramaturgie der einzelnen Werke zwischen dem Ring und dem Parsifal zu beziehen, wurde erstaunlicherweise noch nicht übernommen – bis Karol Berger, einstiger Lehrstuhlinhaber in Stanford, 2016 sein opus magnum vorlegte. Beyond reason: Wagner contra Nietzsche liefert tatsächlich, trotz einzelner Werke wie Heiko Jacobs profunde Arbeit zur Architektur des Parsifal, die erste wirkliche Zusammenschau, die die Rede vom „Gesamtwerk“ Richard Wagners nicht als hohle Formel erscheinen lässt. Gewiss: der Wagnerianer weiß, wenn er nicht ganz uninformiert ist, wieso die Meistersinger auf Tristan folgten und, im zielgerichteten Sinne, vielleicht folgen mussten, und welche dialektischen Bezüge es zwischen dem Ring und dem Parsifal gibt. Wie sich Form und Inhalt (oft) entsprechen, welche geistesgeschichtlichen Hintergründen die einzelnen Werke grundieren: auch das weiß man, aber so genau, so problemorientiert und kritisch, dabei immer ausgewogen zwischen Skepsis und Bewunderung changierend, hat das noch kein Autor zwischen zwei Buchdeckel gelegt. Als wäre dies noch nicht genug, nahm sich Berger zum Zweiten vor, „die ideologische Bedeutung von Wagners Dramen vor den Hintergrund der Weltanschauungen seiner Zeit zu stellen und seine Werke insbesondere mit Nietzsches Kritik zu konfrontieren“. Auch dies klingt – schon im Hinblick auf die existierende Wagner-Nietzsche-Bibliothek – im ersten Moment nicht erschütternd neu, aber es ist erstaunlich, mit welcher Klarheit Berger im Schnelldurchlauf Kants und Hegels Thesen darstellt und Wagner mit Nietzsche konfrontieren kann, um Wesentliches über den Dichtermusiker wie über den Philosophen zu sagen, die sich zeitweise in Einem trafen: einer Ideologie, oder besser: einer Ideologie, die man nur noch in historischer Perspektive verstehen sollte. Dies verschlägt sogar dann nichts, wenn man weiss, dass sich die menschliche Beziehung zwischen Nietzsche und Wagner ein wenig anders darstellte, als es Berger suggeriert (ich empfehle nachdrücklich die Lektüre von Manfred Egers Standardwerk zur biographischen Beziehung zwischen den beiden Größen). Seine konzise Sicht auf Nietzsche contra Wagner, dem Propagandisten des antichristlichen „Übermenschen“ und dem chrsitlich beeinflussten Bühnenweihfestspiel-Komponist, bleibt davon unberührt.

Um das Hauptergebnis vorwegzunehmen: Berger zeigt, dass sich Wagner, unterm Strich, selbst bei seinen reifen Werken öfter auf traditionelle Formen (wie Arie, Ariette, Lied, Duett mit Cantabile und Cabaletta) stützte, als man es gewöhnlich wahrnimmt. Mag sein, dass Bergers Formanalysen, die auch zwischen einzelnen Werken vermitteln (das ist einer ihrer Witze), angesichts der differenzierten Verläufe gelegentlich, und auch dies nur auf den ersten Blick, pauschal wirken. Er ist ehrlich genug, um einzugestehen, dass ein Duett, wie im zweiten Tristan-Akt, unterbrochen werden kann, ohne seine generelle Duetthaftigkeit zu verlieren. Zugrunde liegt die Überzeugung, dass erst ein Blick auf die durch die traditionellen Strukturen ermöglichten Großformen „Erkenntnisse über die dramatischen und philosophischen Implikationen seiner Werke“ ermöglichen. Auf deutsch: Die Meistersinger repräsentieren in ihrer genauen Form die Vermittlung von Tradition und Innovation, während ein auf tödliche Transzendenz gepoltes Werk anderen Formgesetzen gehorcht, ja gehorchen muss. Noch in den dialogischen Partien des Musikdramas vom Ring herrscht, unterm Strich, die „solita forma“, die wir v.a. aus der italienischen Oper und ihren Nachahmern kennen. So kann der gesamte erste Akt der Walküre als eine einzige Opernszene gelesen werden, ohne dass dem Werk ideologisch Gewalt engetan wird – wird auch die Form entschleiert, so bleibt doch der Respekt vor dem Genie eines Komponisten, dem es gelang, äußerst große Verläufe mit vergleichsloser Sicherheit zu bauen.

Im traditionellen Sinne ist, überspitzt gesagt, Rossini gar nicht so weit von Wagner entfernt – weder im musikalischen noch im theatralischen Sinn, wie es denn auch zu den Vorzügen des Bandes gehört, den Musiker Wagner zugleich als Theaterautor und Dramatiker wahrzunehmen: eine Eigenschaft, die Dahlhaus und Lorenz gänzlich abging (womit sie Wagner, man kann‘s nicht anders sagen, strikt verfehlten). Und so, wie Wagner von Feuerbach zu Schopenhauer überlief, bevor er im Parsifal einen Abschluss seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit den geistigen Strömungen seiner Zeit fixierte, folgen die Werke in ihrer Musik den Interessen, die der Ideologe Wagner gerade verfocht; der Abbruch des Ring-Projekts nach dem zweiten Siegfried-Akt und die „Einschübe“ von Tristan und Meistersinger sind ja kein Zufall. Faszinierenderweise stellt Bergers Nietzsche-Kritik hier keinen Appendix dar. Immer wieder wird klar, wieso dessen (völlig irriger) Hinweis auf den „Miniaturisten“ Wagner das Sprungbrett für eine Analyse der äußerst souverän gehandhabten Großform der Werke abgibt, die sich nicht in der Deutung der wagnerschen Erinnerungsmotive oder einzelner harmonischer Beobachtungen (wie dem in jedem – dem dramatischen wie dem musikalischen – Sinne spannenden Tritonus im Ring) erschöpft. Dass sich die Kritik, etwa an der „auffallend verzerrten“ Schlussszene des Siegfried oder an der lebensverneinenden, dabei schwammig bleibenden Tendenz des Tristan, nicht wie die negative Eloge eines Wagnergegners, sondern wie ein Ringen um Verständnis liest, gehört bei Berger zum sauberen Handwerk. Die Kritik am Tristan folgt allein der Analyse der verschiedenen „Achsen“ auf dem Fuß: der „lyrischen“, der „narrativen“, dem „orchestralen“ – und alle diese Stränge vermitteln in erster Linie dramatische Kernpunkte. Ebenso originell scheint mir die Beobachtung, dass das Orchester zumal im Tristan, viel weniger – im Sinne des antiken Chors, der gewöhnlich und auch von Wagner selbst mit seinem Orchester verglichen wird – Kommentarfunktion hat als Figurendenken und -fühlen ausmalt.

Das Buch böte selbst jenem Leser schon Wesentliches, der „nur“ die Schlusskapitel der einzelnen Ring-, Tristan-, Meistersinger- und Parsifal-Aufsätze lesen würde. Berger nimmt den jeweiligen „Mythos“ unter die Lupe, kritisiert ihn auf hohem Niveau und findet schließlich, ganz wie Wagner selbst, im Parsifal mit seiner Mitleidsethik die Lösung jener ideologisch belasteten Revolutions-, Nations- und Liebesvisionen, die Wagner auch heute noch, liest man nur seine Stücktexte und Aufsätze, für viele Interpreten so problematisch machen. Man könnte einiges anders deuten, etwa im Nationaldiskurs der Meistersinger eine völlig normale Taktik sehen, sich im Konzert der gerade entstehenden Nationen mit friedlichen Kulturmitteln einen Platz an der Sonne zu reservieren, aber die Tatsache, dass Wagner mit seiner Verdammung aller realen Politik und dem Putsch des einstigen Verfassungsverteidigers Hans Sachs, nicht zuletzt mit einigen Elementen der Schlussrede die Möglichkeit verteidigte, im Irrationalen die Lösung für alle Probleme dieser Welt zu sehen – diese Tatsache macht das Werk, zumindest auf seiner Schlussrunde, zu einem kritikwürdigen. Man könnte schließlich einwenden, dass Parsifals Mitleidsethik verbunden ist mit dem Ausschluss der Frau aus dem Männerbund und einer höchst seltsamen, sexuell verschmutzten Blut- und Schuld-Mystik – dass der tumbe Tor und spätere Gralskönig Werte anzubieten hat, über die zu streiten sich lohnt, wird davon nicht beeinträchtigt. Mag sein, dass von Wagner zu Hitler der Weg nicht ganz so kurz ist, wie es seine Ankläger behaupten – gleichzeitig, Berger kann das gut begründen, trennen den Musikdramatiker und den Diktator einige gewichtige Denkmuster. Dies nur zur Beruhigung für jene Leser, die in der Kritik an Wagners Totalitarismus sogleich einen Reflex sehen, Wagner zum alten Eisen der Ideologiegeschichte zu legen.

Bergers Zauberwort heisst: Differenzierung. Wie auch immer man den Parsifal inhaltlich im Licht des gesamten Werks beurteilen mag: die Idee, Nietzsches z.T. unsinnige Wagner-Sicht mit einer Konfrontation des späten Philosophen und des alten Komponisten zu korrigieren, ohne Wagners Erlösungswahn und -theater, das Nietzsche sehr genau betrachtet hat, ad absurdum zu führen, ist so gelungen wie seine panoptische Sicht auf die Werke, die Wagner seit dem Ring geschrieben hat. Er schrieb damit ein Buch für Anfänger und für Fortgeschrittene: für die, die es genau wissen wollen, und für die, die sich erstmals für Wagners Denken und die Fage, wie er es denn gemacht habe, interessieren – immer in Blick auf das Wesentliche, die Entsprechung von Musik und Drama, von Klang und Theater, das vom zeitgeschichtlichen Hintergrund nicht trennbar ist, so weit es auch von den zeitgenössischen Opern entfernt ist und/oder scheint.

Mit einem Wort: Ein sehr wichtiges, grundlegendes Buch – und gut lesbar ist es auch noch.

Frank Piontek 29. April 2023


Karol Berger

Jenseits der Vernunft.

Form und Bedeutung in Wagners Musikdramen.

539 Seiten. Metzler / Bärenreiter, 2021. 49,99 Euro.