Lieber Opernfreund-Freund,
eine gänzlich unexotische Madama Butterfly zeigt Opera Ballet Vlaanderen anlässlich des 100. Todesjahres von Giacomo Puccini. Musikalisch eindrucksvoll, überzeugt die moderne Lesart von Mariano Pensotti vor allem deshalb nicht, weil der Regisseur dem eigenen Ansatz nicht traut.
Madama Butterfly wurde vor 120 Jahren an der Mailänder Scala uraufgeführt und gehört noch heute zu den zehn am häufigsten gezeigten Werken der Opernliteratur. Dass man da nach einem anderen Regieansatz sucht, der die Geschichte jenseits von Kimono und Kirschblüten beleuchtet, ist durchaus legitim. Der aus Argentinien stammende Regisseur Mariano Pensotti entrümpelt die Geschichte für seine 2021 an der Opera National du Rhin in Straßburg erstmals gezeigte Produktion, die in Kooperation mit der Opera Vlaanderen entstanden ist. Frei von jeglichem Japankitsch interpretiert er sie als die Story einer Frau, die sich nach einem anderen Leben sehnt, sich von ihrer Heimat abwendet und jemand anderes sein möchte. Folgerichtig hat Mariana Tiantte ein nüchternes, so zeit wie ortloses schwarz-weiß-Setting geschaffen und mitunter avantgardistische Kostüme designt. Sie zeigt das Haus des jungen Ehepaares als verspiegelte Hütte, so dass sich die Protagonisten darin wie in einem Zerrspiegel selbst begegnen. Im Laufe des Abends zerfällt das vermeintliche Glück scheibchenweise, bis sich Cio-Cio San im letzten Bild unter einer umgedrehten Silhouette des Hauses das Leben nimmt.
Das funktioniert an sich gut, doch Mariano Pensotti vertraut seinen eigenen Ideen nicht, traut ihnen offensichtlich so wenig zu, dass er eine ausufernde Rahmenhandlung dazu erfindet. Die imaginäre Maiko Nakamura, Regisseurin mit japanischen Wurzeln, ist es, die die Geschichte für die Genter Produktion umdeutet, während ihrer Arbeit die eigene Geschichte aufarbeitet und als entwurzelte Frau am Tag vor der Premiere Selbstmord begeht… Diese Parallelhandlung wird immer wieder zum Mitlesen über dem eigentlichen Geschehen eingeblendet. Das ist enervierend, ja beinahe übergriffig und lenkt vom Bühnengeschehen ab, statt es zu verstärken, lässt den Regieansatz reichlich konstruiert statt schlüssig erscheinen. Zu schade – hätte doch die bloße Umdeutung in überzeugender Weise einen anderen Zugang zum Werk ermöglicht.
Wenn man die nervigen Mitlestexte außer Acht lässt, erfährt man jedoch pures Opernglück: Celine Byrne ist eine anbetungswürdig unschuldige Butterfly mit zarten Piani und herzergreifendem Ausdruck. Der aus Polen stammende Łukasz Załęski trumpft mit einem überzeugendem Tenor voller Strahlkraft auf und zeigt Pinkerton als unsympathischen Feigling. Lotte Verstaen stattet ihren kräftigen Mezzo in ihrer Interpretation der Suzuki mit warmen Zwischentönen aus, während der in Hamburg geborene Vincenzo Neri als Sharpless zu Höchstform aufläuft: sein satter Bariton verfügt nicht nur über immense Kraft, vielmehr schickt er in den Szenen mit Butterfly als väterlicher Freund eine gehörige Portion Gefühl über den Graben.
Dort entfacht Daniela Candellari ein wahres Klang-Feuerwerk voller Emotionen und hinreißenden Melodienbögen und zeigt Puccini at his best. Das Publikum ist am Ende der Vorstellung begeistert und nicht mehr auf den Sitzen zu halten. Ich verlasse das schöne Genter Haus hingegen mit dem zwiespältigen Eindruck, dass da einer recht übers Ziel hinausgeschossen ist. Der musikalischen Qualität tut dies natürlich keinen Abbruch.
Ihr
Jochen Rüth
Madama Butterfly
Oper von Giacomo Puccini
Opernhaus Gent
Premiere: 8. September 2024 in Antwerpen
besuchte Vorstellung: 13. Oktober 2024
Inszenierung: Mariano Pensotti
Bühne und Kostüme: Mariana Tirantte
Musikalische Leitung: Daniela Candellari
Symfonisch Orkest Opera Ballet Vlaanderen