Florenz: „Lear“

Aufführung am 5.5.19 (Premiere am 2.5.)

Wenn man sich jahrzehntelang für die Oper interessiert, muss man, auch wenn man die großen Werke des 19. Jahrhunderts am liebsten hört, doch immer wieder über den Tellerrand schauen. Diesmal ging es um Aribert Reimanns wohl erfolgreichste Oper, dem großen Dietrich Fischer-Dieskau auf den Leib geschrieben und 1978 in München unter dem Dirigat von Gerd Albrecht und in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle uraufgeführt. In Italien war sie erst einmal zu hören gewesen, nämlich 2001 in Turin in der Fassung mit der englischen Rückübersetzung aus dem Deutschen.

Der Maggio Musicale Fiorentino, in den späten Vierziger- und dann den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts eine stolze Einrichtung mit wagemutigen Titelvorschlägen und dementsprechenden Inszenierungen, war in den letzten Jahrzehnten immer mehr verkümmert. Nun hatte man ein neues Haus (dessen Eröffnung auch schon wieder über sieben Jahre zurückliegt), zunächst ‚Opera di Firenze‘ genannt, schließlich aber ‚Teatro del Maggio Musicale Fiorentino‘, aber kein entsprechendes Programm, bis Cristiano Chiarot fast zwangsweise aus La Fenice in Venedig abgezogen wurde, um das Festival neu aufzustellen. Musikdirektor wurde Fabio Luisi, und mit „Cardillac“ wurde voriges Jahr ein kräftiges Zeichen gesetzt,wie die Sache weitergehen sollte. Heuer also, neben einem umfangreichen Programm von Konzerten, Balletten und Ausstellungen, die Eröffnung mit „Lear“ (Bellinis „La straniera“ und Mozarts „Nozze di Figaro“ werden folgen).

Die vorliegende Produktion war 2016 für Paris entstanden und darf als maßstabsetzend angesehen werden. Angesichts der grausamen Geschehnisse in Shakespeares „König Lear“, von Claus H. Henneberg mit großem Geschick zu einem ausgezeichneten Libretto gerafft, konnte man einiges befürchten, wenn man gewahr wurde, dass der immer für blutrünstige Inszenierungen gute Calixto Bieito für die Regie verantwortlich war. Die Furcht war allerdings vollkommen unbegründet, denn zu sehen waren intensive Szenen mit stringenter Personenführung, die nie sensationsheischend ausfielen (beispielsweise bei Glosters Blendung) oder verquaste Rätsel aufgaben (nur einmal zog ein nackter Mann, der als „figurante speciale“=Sonderkomparse bezeichnete Domenico Nuovo, für mich scheinbar grundlos durch den Wald). Das eindrucksvolle Bühnenbild von Rebecca Ringst bestand zunächst aus senkrecht stehenden Holzlatten, die X-förmig ineinander kippten, als Lear seinen Irrweg durch die Heide begann. Die Lichtgestaltung von Franck Evin trug zur starken Atmosphäre ebenso bei wie die Videoprojektionen von von Sarah Derendinger, die vor allem gegen Ende des Werks bei immer leerer werdender Bühne bedrohliche Stimmungen schufen.

Die Kostüme von Ingo Krügler schärften zusätzlich das Profil der Figuren und ihrer Interpreten. Betreut wurde die Produktion von Yves Lenoir, und sie scheint bei dem Transfer aus Paris nichts von ihrer Spannung verloren zu haben (auch weil die Besetzung praktisch unverändert war). Symbolisch für die Aufteilung seines Reiches verteilte Lear Teile eines Brotlaibs, auf die sich seine gierigen Töchter Goneril und Regan stürzten, ein ebenso starkes Bild wie etwa jenes, in dem Cordelia den wahnsinnigen Vater im Arm hält und an eine klassische Darstellung der Pietà erinnert. Beeindruckend auch die geschickt gestalteten parallel laufenden Szenen gegen Ende der Tragödie, wenn sich Goneril selbst erwürgt.

Wie schon in Paris stand Fabio Luisi neuerlich am Pult und disponierte souverän die schwierigen Klangmassen von Reimanns Werk. Das Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino widmete sich der Komposition mit großem Einsatz und ließ mich die (für mich intensivsten) kompositorischen Stellen der verschiedenen Zwischenspiele genießen. Musikalisch besonders eindringlich ist auch die Szene, in der Lear den Verstand verliert. Ist die Stimmführung für die Männerrollen zwar schwierig, aber bis zu einem gewissen Grad durchhörbar, werden von den Frauenstimmen wiederholt extremste Höhen verlangt, die für das Gehör eher schmerzhaft ausfallen.

Die Titelrolle wurde von Bo Skovhus mit verzehrender Intensität gesungen und gespielt. Wie er in seinem Wahnsinn Selbstgespräche führte und gestikulierte, das war weit entfernt von „Theater“. Ähnliche Intensität brachte der Countertenor Andrew Watts als Edgar auf die Bühne und erfreute dazu mit auffallend schönem Timbre. Seinem bösen Bruder Edmund verlieh Andreas Conrad scharfe Kontur, stieß stimmlich in der Höhe aber an Grenzen. Lears drei Töchter waren hochrangig besetzt: Ángeles Blancas Gulín war eine hochdramatische Goneril von mörderischer Entschiedenheit, Erika Sunnegardh eine Regan mit richtig bösartig klingender Koloratur, Agneta Eichenholz die berührende Cordelia, die die musikalisch zartesten Stellen singen darf. Als unglücklicher Gloster überzeugte Levent Bakirci, als getreuer Kent Kor-Jan Dusseljee. Frode Olsen (König von Frankreich), Derek Welton (Albany), Michael Colvin (Cornwall) boten als Lears Schwiegersöhne gute Leistungen. Sehr nachdrücklich wurde die Sprechrolle des Narren von Ernst Alisch gegeben.

Dass die hohe Qualität der Aufführung überzeugte, war auch daraus zu ersehen, dass sich das gut gefüllte Haus in der Pause nicht leerte und die Ausführenden, mit dem 83-jährigen Komponisten persönlich an der Spitze, am Schluss großen Jubel entgegennehmen konnten.

Eva Pleus 12.5.19

Bilder: Michele Monasta