Düsseldorf: „Die tote Stadt“, Erich Wolfgang Korngold (zweite Besprechung)

Lieber Opernfreund-Freund,

im Rahmen der aktuellen Produktion Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold bietet die Deutsche Oper am Rhein während jeder Vorstellung 30 Zuschauern die Möglichkeit, die Aufführung durch eine so genannte AR-Brille zu verfolgen. AR steht dabei für augmented reality und bedeutet „erweiterte Realität“. Dieses mit Vodafone entwickelte Gimmick verspricht, so die Rheinoper auf ihrer Webseite, eine Erweiterung des Bühnengeschehens und „baut so eine Brücke zwischen der digitalen und der physischen Welt“. Das habe ich gerne einmal für Sie ausprobiert. Siehe auch den Kontrapunkt unseres Herausgebers.

(c) Sandra Then

Die Brille wird über ein eigenes Handy gesteuert, verfügt über eine Powerbank, die es mit Strom versorgt und wird auf dem jeweiligen Sitzplatz im 2. Rang zu Beginn erst einmal kalibriert. Während der laufenden Vorstellung kann man sich dann proaktiv biografische Informationen zu den Künstlern aufrufen, auf verschiedene Livecams in den Orchestergraben umschalten oder GMD Axel Kober frontal beim Dirigieren beobachten – wenn auch auf recht ruckeligen Bildern. Zudem sind Untertitel auf Deutsch oder Englisch einblendbar; das kann dann nützlich sein, wenn man beispielsweise im Parkett sitzend nicht immer zu den Obertitel schielen, sondern die Bühnenhandlung im Focus behalten will. Vom Zuschauer nicht aktiv steuerbar werden gelegentlich Zusatzinformationen zur Handlung und Inszenierung eingeblendet. Diese reichen von Belanglosem wie „Das ist Paul. Er ist Witwer und trauert um seine verstorbene Frau“ bis hin zu Erläuterungen des Regieansatzes. Letzteres erweist sich im aktuellen Fall als besonders nützlich, da sich die Ideen und Gedanken von Daniel Kramer und seinem Team in dem tatsächlich Dargestellten nicht immer erschließen. Ohne die Brille könnte ich Ihnen unter anderem nicht berichten, dass Paul bei Kramer Puppenmacher ist, der den Verlust seiner Frau dadurch zu kompensieren versucht, sie in seinen Puppen nachzubilden – ich hatte seine „Werkstatt“ einfach als unaufgeräumte Bude interpretiert. Die Personenführung und die gezeigte Handlung lassen ebenfalls nicht darauf schließen, dass die Doppelgängerin seiner Frau, Marietta, lt. Regiekonzept keine „gewöhnliche“ Tänzerin ist, sondern dem horizontalen Gewerbe nachgeht. Insofern hat sich das Tragen der technischen Neuerung schon bezahlt gemacht – auch wenn sie noch nicht ganz ausgereift scheint: Der Akku wird schnell sehr heiß, so dass das Handy, das als Steuergerät fungiert, alsbald nicht mehr geladen wird – und so schaltet sich die Brille in den letzten rund 15 Minuten der Handlung dann mangels Stromversorgung automatisch ab.

(c) Sandra Then

Dabei habe ich das Gefühl, dass ich die Hinweise da noch einmal besonders gut hätte gebrauchen können, um die Ideen des Regisseurs zu verstehen. Die eigentliche Handlung suggeriert ja, Paul habe sich das Geschehene nur in einem Tagtraum zusammenfantasiert, wenn Marietta, die er kurz zuvor auf offener Bühne ermordet hat, zur Tür hereintritt, weil sie ihren anfangs im Salon abgelegten Schirm vergessen hat. Paul, der hier ganz und gar nicht der trauernde Gentleman-Witwer, sondern schon von Anfang ein offensichtlich geistig sehr kranker Mann ist, erschlägt aber bei Daniel Kramer gar nicht Marietta, der augenscheinlich die Flucht gelingt, sondern den Geist von Marie, seiner toten Frau. Die ist augenscheinlich nicht eines natürlichen Todes gestorben: die Badewanne, in der sie bei ihrem Auftritt steht, und die Schere, mit der sie dabei hantiert, lassen unwillkürlich an Hitchcocks Psycho oder einen Selbstmord denken. Die Assoziation ist aus mehrerlei Hinsicht auch gar nicht so abwegig: zum einen hat Hitchcock die Oper als Vorlage für seinen Thriller Vertigo benutzt, zum anderen war Korngold 1934 auf Einladung von Max Reinhardt nach Hollywood gekommen, um Filmmusik zu komponieren, und wegen seiner jüdischen Herkunft schließlich gezwungen, dorthin zu emigrieren. Dass GMD Axel Kober das allerdings zum Anlass nimmt, das klanglich vielschichtige Werk im Dauerforte zu präsentieren, als würde John Williams seine Star Trek Suite dirigieren, ist schade. Kober suhlt sich recht eindrucksvoll im klanglichen Bombast, vergisst dabei aber scheinbar, dass da noch Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stehen. Zusammen mit der räumlichen Distanz, die der Bühnenaufbau von Marg Horwell schafft (die Australierin lässt das Sängerpersonal meterweit von der Rampe entfernt in einer Art Kasten agieren), können diese dem wuchtigen Orchestersound nur durch ebensolches Fortissimo begegnen.

(c) Sandra Then

Dabei formt Corby Welch den Paul in bester Heldentenormanier mit eindrucksvollen Höhen voller Strahlkraft. Nadja Stefanoff ist bei ihrem Hausdebut eine energische Marietta, findet im Glück, das mir verblieb, dennoch durchaus träumerisch-versonnene Töne. Mara Guseynova als untote Marie zu besetzen, erweist sich als toller Einfall: die Aserbaidschanerin ist eine klanglich zartere, fast sphärisch klingende Version von Marietta. Bariton Emmett O’Hanlon zeigt als Pauls mahnenden Freund Frank seinen warmen, distinguierten Bariton, ist mir dann aber als Pierrot Fritz nicht nonchalant genug. Anna Harveys Brigitta wiederum zeichnet sich durch ein enormes Maß an Wärme aus.

Brillenbedingt strahlt das geniale Licht von Peter Mumford nicht ganz so brillant, wirkt irgendwie dumpfer. Ansonsten ist diese Neuheit bei technischer Reife mehr als ein bloßes Spielzeug, kann einem technikaffinen Opernbesucher einen echten Mehrwert verschaffen und scheint bei entsprechendem Ausbau auch nicht nur Opernneulingen den Zugang zu dieser Kunstform zu erleichtern.

Ihr Jochen Rüth 8. Mai 2023


Die tote Stadt

Oper von Erich Wolfgang Korngold

Premiere: 16. April 2023

Besuchte Vorstellung: 4. Mai 2023

Inszenierung: Daniel Kramer

Musikalische Leitung: Axel Kober

Düsseldorfer Symphoniker

Weitere Vorstellungen: 13., 18. und 26. Mai sowie ab 17. Juni in Duisburg

Trailer

Opernfreund Premierenkritik