Frankfurt: „Le postillon de Lonjumeau“, Adolphe Adam

Wenige Stunden nach dem Fastnachts-Umzug in Frankfurt hatte am Sonntag eine Opéra comique ausgerechnet des Komponisten Premiere, dessen Oper Le Brasseur de Preston das musikalische Material zum berüchtigten Narhalla-Marsch lieferte. Dafür kann Adolphe Adam nichts. Seine Oper Le postillon de Lonjumeau jedenfalls ist weit entfernt von brachialem Fastnacht-Sitzungs-Humor. Das Libretto bietet eine operettig-leichte Handlung: Im vorrevolutionären Paris ist dem Operndirektor ein Tenor abhandengekommen. Er findet bei der Reparatur seiner Kutsche im ländlichen Lonjumeau Ersatz im dortigen Postillon, der sich gerade frisch vermählt hat. Für die Gesangskarriere in Paris läßt dieser die Braut ohne großes Federlesen links liegen. Zehn Jahre später ist die Verlassene durch Erbschaft zu Wohlstand gekommen und trifft in Paris auf den abhandengekommenen Gatten, der zum Star des Opernensembles aufgestiegen ist. Der findet erneut Gefallen an ihr, ohne ihre Identität zu erkennen. Aus Rache macht sie ihm Avancen und bringt ihn dazu, sie unter neuem Namen erneut zu heiraten. Der neu-alte Gatte wird daraufhin der Bigamie angeklagt, worauf die Todesstrafe steht. Dem Strick entgeht er durch die Auflösung: Er hat zwar zweimal geheiratet, jedoch dieselbe Frau.

© Barbara Aumüller

Diese leichtgewichtige Handlung erhält ihren Reiz durch saftige Genre-Szenen etwa bei der ländlichen Hochzeit des ersten Aktes und karikaturhafte Blicke hinter die Kulissen des Opernbetriebes im zweiten Akt: Theater im Theater also, mit eingebildeten Sängern, streikenden Chören und einem nervösen Operndirektor. Das Inszenierungsteam um Hans Walter Richter hat sich dazu entschieden, das Stück ganz aus sich heraus zu realisieren, ohne moderne Zutaten, philosophisch-kritische Überbauten, Meta-Ebenen oder zeitliche Verlegungen. Die Handlung bleibt intakt, und deswegen spielt sie im 18. Jahrhundert. Das bietet Kaspar Klarner die Möglichkeit, ein wahres Rokoko-Kostümfest zu veranstalten, wie man es auf Opernbühnen in Neuinszenierungen nur noch selten erlebt: ein Augenschmaus, nicht nur für Traditionalisten. In der Vorberichterstattung hat Klarner zu Protokoll gegeben: „Es würde dem Stück nicht weiterhelfen, wenn der Postillon als moderner Paketbote auftreten würde.“ Sofort muß man an Tobias Kratzers jüngste Regiearbeit zu Die Frau ohne Schatten an der Deutschen Oper Berlin denken, wo der Geisterbote in UPS-Uniform Pakete zustellt, und das wirklich weder dem Stück noch der Inszenierung weitergeholfen hat. Der eigentliche Coup allerdings ist das ebenfalls von Klarner entworfene Bühnenbild: Er hat einen barocken Theaterkasten samt Bühnenmaschinerie und barocktypischen Kulissen nachbauen lassen, der von Bühnenarbeitern in historisierender Kleidung um die eigene Achse gedreht werden kann und so unterschiedliche Ansichten und Perspektiven zeigt. Das ist die perfekte Spielwiese für Hans Walter Richters locker-beschwingte Regie. Mit einem spielfreudigen Ensemble erzählt er einfach nur eine unterhaltsame Geschichte. Mit diesem bewußten Verzicht auf „Gesellschaftskritik“, „brennende Aktualität“ oder das „Hinterfragen von Konventionen“ setzt diese Produktion einen Kontrapunkt zum Regisseurstheater-Mainstream. Das wirkt keinen Moment lang altbacken oder verstaubt, sondern wunderbar erfrischend.

© Barbara Aumüller

Dankbar ist man dem Regisseur auch dafür, daß er den Humor der Vorlage nie in Klamauk umkippen läßt. Zu erleben ist eine wohltemperierte Komik ohne Schenkelklopfer und ohne Drastik. Eine heitere Beschwingtheit durchweht den Abend. Der größte Eingriff in die Vorlage ist, daß nach der zweiten Hochzeit des Paares der zum Gesangsstar avancierte Postillon unvermittelt Wagners Lohengrin zitiert („Das süße Lied verhallt. Wir sind allein, zum ersten Mal allein, seit wir uns sahn…“), während in den Kulissen des Barocktheaters ein Schwan durch mechanisch bewegte Wellen schwimmt. Das ist eine augenzwinkernde Referenz daran, daß Richard Wagner die Oper Adolphe Adams schätzte und das seinerzeit populäre Postillonlied zum Einschlafen gesummt haben soll (was wir aus einer Tagebucheintragung Cosimas wissen).

Diese locker-heitere Haltung der Inszenierung wird aus dem Orchestergraben von Beomseok Yi unterstützt, der mit seinen gut aufgelegten Musikern einen duftig-warmen Klang mit schönen Bläsersoli beisteuert.

© Barbara Aumüller

Hohe Anforderungen stellt die Partitur an den Sänger der Titelpartie. Immer wieder wird er in stratosphärische Spitzentöne getrieben, so daß Ulrich Schreiber in seiner „Kunst der Oper“ von einer „permanenten Herausforderung für die Alpinisten unter den Tenören“ spricht. Francesco Demuro verfügt gleichsam über zwei Stimmen: einer für das „Flachland“ des gewöhnlichen Tonumfangs und einer für die „alpinen Gebiete“ der Spitzentöne. Erstere ist angenehm timbriert und kommt gut auch mit tieferen Lagen zurecht, letztere ist eine dynamisch vergrößerte Kopfstimme mit in Spitzen grellem Timbre, aber enormer Durchschlagskraft. Zwischen diesen Stimmen schaltet Demuro je nach Bedarf hin und her, wobei es bei der „alpinen“ Stimme immer wieder ein merkliches Einschleifen gibt. Das ist zwar vom Ideal einer Registerverblendung weit entfernt, kann aber gerade in der Rolle eines mit hohen Tönen kraftmeiernden Sängers als Moment der Gestaltung akzeptiert werden. Nicht selten sorgen die heraustrompeteten, aus der Gesangslinie herausstechenden Spitzentöne im Publikum für Heiterkeit.

Ein geschlosseneres Gesangsbild bietet Monika Buczkowska-Ward in der weiblichen Hauptrolle der Madeleine. Auch sie hat technisch herausfordernde Koloraturen zu bewältigen, was ihr souverän gelingt, weiß diese aber mit dem blühenden Ton ihres lyrischen Soprans zu verbinden. Mit kernigem, aber schlankem Bariton gibt Jarrett Porter den Operndirektor Marquis de Corcy und erweist sich dabei darstellerisch als begnadeter Komödiant. Mit saftigem Baßbariton gefällt Joel Allison als Bijou. Wie immer eine Bank ist der Chor mit homogenem, sattem Klang und lebendigem Spiel.

© Barbara Aumüller

In diesem heiter-beschwingten Abend spendiert die Oper Frankfurt dem Publikum eine Auszeit von einer aus den Fugen geratenen Gegenwart. Es darf sich unbeschwert an Kostümen, Bühnentechnik und vokalen Kunststücken erfreuen. Ist das Eskapismus? Zweifellos, aber den sollte man sich hin und wieder gönnen, insbesondere wenn er so charmant und perfekt serviert wird.

Michael Demel, 3. März 2025


Le postillon de Lonjumeau
Opéra comique von Adolphe Adam

Oper Frankfurt

Premiere am 2. März 2025

Inszenierung: Frank Walter Richter
Musikalische Leitung: Beomseok Yi
Frankfurter Opern- und Museumsorchester