Stuttgart: „Rusalka“, Antonin Dvořák

Zu einem beachtlichen Opernnachmittag geriet an der Staatsoper Stuttgart die Aufführung von Antonin Dvořáks Oper Rusalka. Bereits die trefflich durchdachte, spannende und farbenprächtige Inszenierung von Bastian Kraft in dem Bühnenbild von Peter Baur und den Kostümen von Jelena Miletic vermochte stark für sich einzunehmen. Sie ist sowohl für modern als auch für konventionell eingestellte Gemüter geeignet und hält für jeden Geschmack etwas bereit. Hier haben wir es mit einer guten Gratwanderung zu tun, die von dem Publikum voll akzeptiert wurde. Daran hat sicher auch Johannes Oertel, der für die szenische Leitung der Wiederaufnahme verantwortlich zeichnete, seinen gehörigen Anteil.

© Martin Sigmund

Ansprechend war bereits der Regieeinfall, die Oper in das Ambiente von Travestie und Drag zu verlegen. Diese Idee Krafts hat sich im Lauf des gelungenen Nachmittags trefflich bewährt. Sie war nicht in irgendeiner Form willkürlich, sondern beruhte auf der Überlegung des Regisseurs, dass alle in dem Stück vorkommenden Wasserwesen hinsichtlich ihrer Geschlechtlichkeit außerhalb der Norm stehen. Demgemäß wartet er mit einer Zweiteilung der Rollen von Rusalka, dem Wassermann, der Jezibaba und den Elfen auf. Gekonnt spaltet er sie in Sänger und Drag-Queens. Hier haben wir es mit einem in jeder Beziehung gelungenen Regiestreich zu tun. Zuerst sind das Gesangspersonal und die Travestie-Künstler räumlich noch voneinander getrennt. Im ersten Akt ist der untere Teil der Bühne den Drag-Queens vorbehalten. Hier wird der Raum von einem 45 Grad nach vorne gekippten Spiegel eingenommen, der eine bunte Bodenfläche reflektiert und dabei die Assoziation aufkommen lässt, dass es sich hier um einen kleinen See handelt. Im oberen Bereich der Bühne erblickt man eine Brücke, auf dem die Sänger positioniert sind und singen. Synchron zu den Worten der Sänger bewegen die Drag-Queens die Lippen, so dass sich der Gedanke aufdrängt, dass sowohl die Gesangssolisten als auch die Travestie-Künstler vokalisieren. Bei Kraft mutieren diese Märchengestalten zu schillernden Doppelwesen, denen große Sinnlichkeit zu Eigen ist. Diese Doppelgänger-Idee ist sehr überzeugend. Den Menschen dagegen bleibt eine Verdoppelung erspart. Im Gegensatz zu den Drag-Queens wandeln sie nicht zwischen den Geschlechtern. Sie sind und bleiben vom Anfang bis zum Ende was sie sind.

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Im Laufe der Aufführung gehen die beiden Welten in zunehmendem Maß ineinander über. Die Gesangssolisten klettern über eine am linken Rand der Bühne angebrachten Leiter in das Umfeld der Transvestiten herab, während die letztgenannten in der Lage sind, auch den oberen Bereich zu erklimmen. Derart kommt es häufig zu Vereinigungen von Sänger- und Drag-Queen-Welt. Diese Tatsache sowie der Spiegel ermöglichen es, dass die unterschiedlichen Handlungsträger manchmal in verschiedener Anzahl präsent zu sein scheinen. Das hinterließ einen mächtigen Eindruck! Einmal richtet sich das überdimensionale Spiegelglas auch gänzlich auf und reflektiert das Auditorium sowie die Dirigentin und das Orchester. Kraft hält dem Publikum gleichsam den sprichwörtlichen Spiegel vor.

Rusalka deutet der Regisseur als eine Außenseiterin. Die Begegnung mit ihrer Doppelgängerin, die von Reflektra – das ist der australische Tänzer und Dragist Joe Small – verkörpert wird, hebt die Beziehung von Rusalka zu ihrem Alter Ego gekonnt auf ein psychologisches Terrain. Bei Rusalka dominiert das Körperliche, bei Reflektra das Emotionale. Zeitweilig, beispielsweise zu Beginn des zweiten Aktes, in dem sie ohne die Sängerin auftritt, scheint Reflektra zu siegen. Reflektra ist es aber auch, die sichtbar schweres Leid zu erdulden hat. Seitens der Regie phantastisch gelöst ist die Szene im zweiten Akt, in der sie an ihrem Schminktisch sitzt und zur Zeugin wird, wie der Prinz mit der fremden Fürstin anbandelt. Durch eine in dem Spiegel befindlichen Kamera wird ihr Gesicht auf eine Leinwand im Hintergrund projiziert. Hier offenbart sich das ganze Ausmaß ihrer vielfältigen Gefühle – beginnend mit der enormen Trauer über den Treubruch des Prinzen. Ihre Hoffnung auf ein Glück an seiner Seite ist auf der ganzen Linie zum Scheitern verurteilt. Ihr Lebensplan hat sich nicht erfüllt. Dass der Regisseur diese essentielle Szene ganz allein Reflektra zuordnet, verdeutlicht seine Absicht, die Drag-Queen in den Vordergrund zu stellen. Gleichzeitig verliert die Sängerin der Rusalka in diesem Akt an Relevanz. Während des Schlussduetts zwischen Rusalka und dem Prinzen schminkt sich Reflektra ab und zeigt den Zuschauern voll und ganz ihre männliche Seite. Anschließend klimmt der nun zum Mann mutierte Transvestit in Unterhosen zu der Brücke hoch. Zum Schluss schwebt er in Gestalt eines Wasserwesens mit Schwanz in Richtung Schnürboden. Deutlich wird, dass ihm in dieser Inszenierung die eigentliche Hauptrolle zukommt. Insgesamt hat es den Anschein, als ob außer ihm die übrigen Drag- Queens Vava Vilde, Lola Rose, Emily Island, Judy LaDivina und Alexander Cameltoe von Kraft um einiges stärker gefordert werden als das Gesangspersonal. Mit dieser grandiosen, geradezu preisverdächtigen Produktion kann man sehr zufrieden sein.

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Nun zu der musikalischen Seite. Wie bereits oben erwähnt, senkt sich im dritten Akt ein Spiegel herab, durch den man die Dirigentin Oksana Lyniv für längere Zeit bei der Arbeit beobachten konnte. Es ist in hohem Maße erstaunlich, welche enorme Energie aus diesem zierlichen Körper herauskam und sich auf das prachtvoll, intensiv und klangschön aufspielende Staatsorchester Stuttgart übertrug. Was an diesem gelungenen Nachmittag aus dem Graben ertönte, war Wohlklang pur! Frau Lyniv lotete das Expressionistische von Dvoraks reichhaltiger Partitur in ebenso hohem Maße aus wie sie die Anklänge an Richard Wagner herausstellte und die volksliedhaften Elemente der Musik ebenfalls nicht zu kurz kommen ließ. Dabei wartete sie mit einer feinen, transparenten Tongebung auf, verstand es darüber hinaus aber auch trefflich, markante Akzente zu setzen und dem Werk einen ausgeprägten Spannungsbogen über zu stülpen. Auf diese Weise versetzte sie das begeisterte und am Ende mit Applaus nicht sparende Publikum in einen regelrechten Klangrausch. Oksana Lyniv ist sicher eine der besten Dirigentinnen der Jetztzeit. Das hat sie mit dieser Rusalka wieder einmal bewiesen.

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Zum großen Teil zufrieden sein konnte man auch mit den gesanglichen Leistungen. Wunderbar war Esther Dierkes anzuhören, die mit einem hervorragend italienisch fokussierten, silbern schimmernden und zur Höhe hin herrlich aufblühenden jugendlich-dramatischen Sopran eine erstklassige Rusalka sang. Schönes lyrisches Tenor-Material brachte Kai Kluge in die Partie des Prinzen ein. Trotz einer Indisposition, deretwegen er sich zu Beginn ansagen ließ, hielt er problemlos durch. Einen wohlklingenden, sehr sonoren und ebenfalls bestens italienisch fundierten Bass nannte der Wassermann von Adam Palka sein Eigen. Phantastisch gelang ihm seine Arie im zweiten Akt. In prachtvoller Form präsentierte sich auch die Mezzosopranistin Diana Haller als Fremde Fürstin, deren hohe  Tessitura samt dem gefürchteten hohen `c` ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitete. Sie sang durch die Bank tiefgründig und ausdrucksvoll. Nach der Elettra in Mozarts Idomeneo war dies bereits die zweite Sopranrolle, in der man die Sängerin hören konnte. Bahnt sich hier vielleicht ein Fachwechsel an? Zutrauen möchte man es ihr. Bei Frau Haller handelt es sich um eine grandiose Sängerin! Mit profundem, ebenmäßig dahinfliessendem Mezzosopran gab Katia Ledoux eine eindrucksvolle Jezibaba. Einen homogenen Gesamtklang bildeten die drei Elfen von Natasha Te Rupe Wilson, Catriona Smith und Leia Lensing. Ein solider Küchenjunge war Itzel del Rosario. Mit maskig klingendem Tenor stattete Torsten Hofmann den Heger aus. Noch entwicklungsfähig mutete Alberto Roberts Jäger an. Eine tadellose Leistung erbrachte, der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernschor Stuttgart.

Ludwig Steinbach, 11. März 2025


Rusalka
Antonin Dvořák

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 4. Juni 2022
Besuchte Aufführung: 9. März 2025

Inszenierung: Bastian Kraft
Musikalische Leitung: Oksana Lyniv
Staatsorchester Stuttgart