Die Neuproduktion von Giuseppe Verdis La Traviata an der Opéra de Genève – unter der musikalischen Leitung von Paolo Carignani und in der Regie von Karin Henkel – präsentiert sich als vielschichtige Auseinandersetzung mit Fragen nach Identität, Erinnerung und Vergänglichkeit. Die Inszenierung wählt bewusst einen unkonventionellen Zugang, der sich von traditionellen Lesarten deutlich abhebt, ganz nach dem Wunsch des Intendanten Aviel Cahn.

Verschiedene Facetten einer Figur; Eine vielschichtige „Traviata“ jenseits des Gewohnten. In dieser Neuinterpretation von Verdis La Traviata begegnen wir nicht nur einer Violetta, sondern gleich mehreren: Die sterbende Violetta, die das Geschehen rückblickend, steht einer kindlichen Version ihrer selbst gegenüber – eine Violetta, die noch voller Unschuld ist. Parallel dazu erleben wir die „klassische“ Violetta, die durch die eigentliche Handlung der Oper führt. Ergänzt wird dieses Ensemble von einer vierten Figur: einer Tänzerin, die den Tod verkörpert und als Schatten oder Spiegelbild der sterbenden Violetta fungiert. Aus dieser Konzeption ergibt sich ein raffiniertes Spiel mit verschiedenen Zeitebenen, Erinnerungsfragmenten und inneren Realitäten. Die Grenzen zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Vorstellung verschwimmen. Die Inszenierung bricht bewusst mit traditionellen Darstellungsmustern und eröffnet neue Perspektiven auf Violettas inneres Erleben. Diese Traviata ist deutlich düsterer als viele gängige Inszenierungen. Sie zeigt weniger Glamour und mehr existenzielle Tiefe – Violetta nicht nur als tragische Heldin, sondern als komplexe Figur mit vielen Facetten, gefangen zwischen Hoffnung, Erinnerung und unausweichlichem Ende.
Inszenierung und Kostüme – Räume zwischen Leben, Tod und Dekadenz; Die Regiearbeit von Henkel entfernt sich bewusst von einer konventionellen Lesart von Verdis La Traviata. Im Zentrum steht eine weibliche Perspektive, die Violetta nicht nur als Opfer einer Liebestragödie, sondern als Frau zeigt, die sich in einem von Männern dominierten System am Ende opfern muss. Die Männerfiguren erscheinen dabei als diejenigen, die sich von der Verantwortung für dieses Opfer – bewusst oder unbewusst – entlasten.
Der Bühnenraum, gestaltet von Aleksandar Denićs ist vieldeutig konzipiert. Er bleibt über weite Strecken ein öffentlicher Raum, der verschiedene Assoziationen zulässt: mal wirkt er wie eine Leichenhalle, mal wie ein Ballsaal, Café oder Krankenhaus. Diese Uneindeutigkeit verstärkt das Gefühl der Isolation und strukturellen Kälte, welche die Inszenierung durchzieht.
Ein markantes Beispiel für diesen Regieansatz ist die zweite Szene des zweiten Akts – Floras Party. Anders als in vielen traditionellen Inszenierungen wird hier eine aggressive Grundstimmung betont. Der Spielabend wird nicht nur als dekadentes Vergnügen gezeigt, sondern als ein Ort emotional aufgeladener Spannungen. Symbolisch verdichtet wird dies durch einen Boxkampf auf der Bühne – mit schwitzenden, körperlich agierenden Kämpfern, einem Verlierer und einem Sieger. Diese Konstellation spiegelt die Situation von Violetta und Alfredo wider und unterstreicht die Macht- und Geschlechterdynamiken des Abends.
Auch die Kostüme von Teresa Vergho tragen wesentlich zur Erzählweise bei. Zu Beginn erscheinen die Figuren in dunkler Trauerkleidung – Anklänge an eine Beerdigungsszenerie sind deutlich. Im „Krankenhaus“-Abschnitt dominiert Weiss, daß an klinische Reinheit, aber auch an Auslöschung erinnert. Die Gäste der Party in Floras Haus hingegen tragen farbenprächtige, auffällig dekadente Kleidung, die gesellschaftlichen Status und Exzess sichtbar macht. Wer über Geld verfügt, darf feiern – diese Aussage ist in Kostüm und Szene klar lesbar.
Jeanine De Bique, die Entdeckung des Abends, überzeugt mit stimmlicher Präsenz und technischer Sicherheit. Ihre Violetta wirkt nicht sentimental, sondern entschieden und innerlich gefestigt. Julien Behr gestaltet Alfredo mit lyrischer Wärme, wobei ihm stellenweise die dramatische Zuspitzung fehlt. Tassis Christoyannis verleiht Giorgio Germont stimmliche Autorität und darstellerische Differenzierung, insbesondere in seiner Szene im zweiten Akt. Das Ensemble wird hervorragend ergänzt durch Emanuel Tomljenović als Gaston de Létorieres, Yuliia Zasimova als Flora Bervoix, Élise Bédènes als Annina, Raphaël Hardmeyer als Le Marquis d’Obigny, Mark Kurmanbayev als Le Docteur Grenvil und David Ireland als Le baron Douphol.

Musikalische Umsetzung; Der Dirigent führt das Orchestre de la Suisse Romande präzise und ausbalanciert durch die Partitur. Seine Interpretation zeichnet sich durch Transparenz, kluge Tempowahl und einen insgesamt kontrollierten Spannungsbogen aus. Besonders im dritten Akt gelingt ihm eine zurückhaltende, doch emotionale Ausdeutung von Violettas Sterbeszene.
Fazit; Die Traviata-Inszenierung in Genf ist eine bewusst moderne und konzeptuelle Auseinandersetzung mit Verdis Werk. Sie verzichtet auf konventionelle Lesarten zugunsten einer multiperspektivischen Darstellung, die sowohl musikalisch als auch visuell konsequent, aber sehr düster umgesetzt ist. Der Abend fordert Konzentration und Offenheit, bietet im Gegenzug aber eine stringente und zeitgemäße Deutung des Opernklassikers. Eine Interpretation der Traviata die man so nicht immer sieht.
Marcel Emil Burkhardt, 19. Juni 2025
Besonderer Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom MERKER-online (Wien)
La Traviata
Giuseppe Verdi
Opéra de Genève
15. Juni 2025
Regie: Karin Henkel
Musikalische Leitung: Paolo Carignani
Orchestre de la Suisse Romande