DVD: „Die Meistersinger von Nürnberg“, Richard Wagner

Bei dem Label Naxos ist ein Live-Mitschnitt von Wagners komischer Oper Die Meistersinger von Nürnberg auf DVD erschienen. Mitgeschnitten wurden zwei Aufführungen vom 29. Juni und 2. Juli 2022 an der Deutschen Oper Berlin. Rein szenisch bereitet diese DVD ungetrübte Freude. Das altbewährte Regie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito hat in Zusammenarbeit mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ihre hoch gelungene, moderne und anspruchsvolle Inszenierung gehört zum Besten, was die Rezeptionsgeschichte des Werkes zu bieten hat. Das Regieteam wartet mit einem hervorragend durchdachten, in sich schlüssigen Konzept auf, das es mit Hilfe einer stringenten, niemals erlahmenden Personenregie auch bestens auf die Bühne gebracht hat. Leerläufe stellen sich an keiner Stelle ein. Langweilig wird es wirklich nie. Alles wirkt wie aus einem Guss. Darüber hinaus präsentiert das Regie-Duo auch mannigfaltige Tschechow‘ sche Elemente und gönnt den Beteiligten auch an Stellen Auftritte, an denen Wagner für sie solche gar nicht vorgesehen hat. Beispielsweise sind die Meistersinger einschließlich Sachs, Beckmesser und Pogner bereits zu Beginn des ersten Aufzuges zu sehen, wie sie dem Chorgesang lauschen. Am Anfang des dritten Aufzuges gewahrt man Stolzing, der die Bühne eigentlich erst in der zweiten Szene betritt, mit verbundenem Kopf am Boden liegend. Bemerkenswert ist in diesem Aufzug ebenfalls die Einbeziehung der Rezeptionsgeschichte seitens der Regie. An einem der Stolzing von Sachs vorgeführten Kleidungsstücke prangt deutlich sichtbar ein Hakenkreuz, was an die Einvernahme der Meistersinger durch die Nazis gemahnt. Hier wird rigoros das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte beschworen und dabei gleichzeitig an die Verstrickung der Wagner-Familie in den Nationalsozialismus erinnert.

In dieser Oper dreht sich alles um das Singen, um die Ausbildung von Gesangsschülern zu meisterhaften Sängern. Konsequenterweise siedeln Wieler, Morabito und Viehbrock das Geschehen in einer mit braunen Holzvertäfelungen verkleideten – Münchner? – Musikhochschule im Stile der 1930er Jahre an. Die Meister sind die Professoren und die Lehrbuben beiderlei Geschlechts die Studenten. Zwischen beiden gibt es auch mal private Berührungspunkte. So unterhält die Dozentin Magdalena eine Liebesbeziehung zu dem Studenten David. Hier haben sich die beiden Regisseure von Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin inspirieren lassen. Dieser Ansatzpunkt mit dem Musikkonservatorium ist zwar glücklicherweise voll und ganz moderner Natur, gleichzeitig aber auch ausgesprochen werktreu! Das Konzept ist voll und ganz aufgegangen! Diese Musikhochschule befindet sich gänzlich in privater Hand, nämlich in derjenigen von Dr. Veit Pogner. Dieser nähert sich dem wohlverdienten Ruhestand und möchte aus diesem Grund das von ihm gegründete und als Direktor geleitete Privat-Konservatorium der öffentlichen Hand übergeben. Sein Nachfolger soll am Johannistag mit Hilfe eines für die ganze Bevölkerung zugänglichen Gesangswettbewerbs ermittelt werden. Pogner hat allerdings zur Bedingung gemacht, dass sein potentieller Nachfolger einwilligt, seine Tochter Eva zu heiraten. Über sie möchte er auch nach seinem offiziellen Ausscheiden die Geschicke des Instituts noch weiter mitbestimmen. Der in Eva frischverliebte Stolzing, der so überhaupt nichts von Gesang versteht, hat es da schwer. Und weder er noch Pogner haben eine Ahnung, dass Eva ein heimliches Verhältnis mit Sachs pflegt. Das wird spätestens bei dem Zwiegespräch zwischen diesen beiden im zweiten Aufzug deutlich, wo es gleich heiß zur Sache geht. Lasziv rekelt sich Eva vor Sachs in Unterwäsche auf dem Boden. Anschließend entledigt sie ihn seines Hemdes. Es kommt zum Sex zwischen den beiden. Dabei reflektiert das Paar noch munter über ihre Beziehung, die durch Stolzing gestört wird. Ob diese eine Zukunft hat, ist angesichts der Eva durchaus zusagenden Qualitäten des gut aussehenden Ritters zumindest zweifelhaft.

Der stets barfuß gehende und hochprozentigen Genüssen nicht abgeneigte Sachs – er bevorzugt Jack-Daniel’ s – Whiskey –  ist in Wielers und Morabitos Deutung kein Schuster, sondern als Professor für Schlagzeug und eifrig Fußmassagen austeilender Musiktherapeut in der Musikhochschule angestellt. Hohen Respekt des übrigen Lehrkörpers scheint er indes nicht sonderlich zu genießen. Er ist ein Außenseiter, der lediglich geduldet wird. Das mag einmal daran liegen, dass er von der U-Musik kommt. Ein anderer Grund dafür ist in Sachs‘ von den meisten Professoren nicht akzeptierten Reformbestrebungen zu sehen. Insbesondere ist er auf eine Reformierung des Prüfungsverfahrens bedacht. Diese Intention stößt bei den anderen Angehörigen des Konservatoriums auf taube Ohren. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass Sachs im dritten Aufzug versucht, Stolzing für seine Pläne zu funktionalisieren. Durch ihn will er die Musikhochschule nach seinen Intentionen umgestalten.

Einen gewissen Respekt hat Sachs seine Produktion von Gesundheitsschuhen eingebracht. Von dieser Sorte nennt er einen ganzen Sack voll sein eigen. Zuerst bietet er sie erfolgreich dem an einem heftigen Fußleiden laborierenden Leiter der Prüfungskommission Beckmesser an. Diese kann der Merker, der im ersten Aufzug die Fehlerzeichen mit einem Edding-Stift auf mehrere riesige Blätter Papier malt, nach der Schlägerei, bei der David gerade seinen schlimmen Fuß malträtiert hat, auch gut gebrauchen. In der Schusterstube des dritten Aufzuges, den Wieler und Morabito in Anlehnung an Bertolt Brecht in ein Theater auf dem Theater verlegen, kann er sich zunächst nur mit Hilfe von Krücken fortbewegen. Erst nachdem Sachs sein Fußleiden mit einer Massage erfolgreich therapiert und ihm ein Paar Gesundheitsschuhe angepasst hat, ist Beckmesser fähig, sich wieder ohne Gehhilfen fortzubewegen. Sein Ständchen mit anschließender kafkaesk unheimlich anmutender Prügelfuge im zweiten Aufzug ist eine Konzertdarbietung, an der er selbst am Flügel sitzt, und den Professoren und Studenten als Publikum. Sonderliches Interesse bringen ihm seine Zuhörer aber nicht entgegen. Einige schlafen während seines Gesangs ein. Bei seinem Unsinns-Lied im dritten Aufzug begleitet er sich ebenfalls selbst am Flügel. In dieser Produktion wird er aufgrund des von ihm verzapften Unsinnswusts nicht ausgelacht, sondern mit Gewalt unterbrochen und unsanft vom Podium gezerrt. Zuvor war er immer noch so lädiert, dass er unter den Augen des Auditoriums und der die Jury bildenden, am linken Rand der Bühne sitzenden Meistersinger bzw. Professoren von zwei Studenten auf die Bühne geführt werden musste. Diese Darstellung Beckmessers als tragische Figur ist dem Regie-Duo  phantastisch gelungen. Diesen Beckmesser verlacht man nicht, sondern man hat Mitleid mit ihm. Am Ende darf er nicht, wie es heutzutage meistens der Fall ist, auf die Bühne zurückkehren. Stolzings aus der letzten Bühnen-Zuschauerreihe gesungenes Preislied und Sachs‘ große Schlussansprache bekommt er nicht mehr mit. Als Sachs zu seiner gut gemeinten Belehrung des jungen Adeligen anhebt, flieht dieser mit Eva schnell in den Zuschauerraum. Hier lässt wiederum Bertolt Brecht schön grüßen. Seine Angebetete will Stolzing zwar unbedingt heiraten, aber die Nachfolge Pogners schlägt er aus. Wie es mit der Musikhochschule weitergeht, bleibt offen. Pogner wirkt am Ende ob dieses Ausgangs doch recht irritiert. Insgesamt handelt es sich bei dieser Produktion um eine ausgesprochen spannende, interessante und kurzweilige Angelegenheit, die dem famosen Regie-Duo Wieler und Morabito zur hohen Ehre gereicht. Bravo!

Eine solide, wenn auch nicht außergewöhnliche Leistung erbringt John Fiore am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin. Zwar dirigiert er in nicht allzu schnellen Tempi ausgewogen und sängerfreundlich, in die erste Liga der Meistersinger-Dirigenten vermag er indes nicht vorzudringen. An manchen Stellen wäre etwas mehr Ausdrucksintensität wünschenswert gewesen.

Nun zu den gesanglichen Leistungen: Als Hans Sachs überzeugt der mit einem saft- und kraftvoll klingenden, sonoren und farbenreichen Heldenbariton aufwartende Johan Reuter. Eine gute Leistung erbringt Philipp Jekal, der darstellerisch einen noch jungen, sympathischen Beckmesser ansprechend spielt. Auch gesanglich vermag er mit seinem tenoralen, trefflich fokussierten und mühelos bis zum hohen a heraufreichenden Bariton sehr für sich einzunehmen. Einen virilen, höhensicheren und farbenreichen jugendlich-dramatischen Sopran bringt Heidi Stober in die Partie der Eva ein. Die herrlich glutvoll und mit hervorragender italienischer Technik singende Magdalena von Annika Schlicht macht die Liebe Davids glaubhaft, der von Ya-Chung Huang vortrefflich gespielt und mit vorbildlicher Körperstütze seines gefälligen Tenors gesungen wird. Mit der hohen Tessitura des Pogner hat der profund und ausgeglichen intonierende Albert Pesendorfer nicht die geringsten Probleme. Ein markant singender und bei der Verlesung der Tabulatur recht koloraturgewandeter Kothner ist Thomas Lehmann. Eine Luxusbesetzung für den Nachtwächter ist der voll und rund klingende Bass von Günther Groissböck. Gegenüber seinen Kollegen fällt der Stolzing von Klaus Florian Vogt erheblich ab. Sein heller, weißer, flacher und überhaupt nicht im Körper verankerter Tenor vermag in keinster Weise zu gefallen. Positives und Negatives vernimmt man aus dem Ensemble der kleinen Meister, das aus Gideon Poppe (Kunz Vogelgesang), Simon Pauly (Konrad Nachtigall), Paul Kaufmann (Balthasar Zorn), Clemens Bieber (Ulrich Eisslinger), Burkhard Ulrich (Augustin Moser), Stephen Bronk (Hermann Ortel), Tobias Kehrer (Hans Schwarz) und Byung Gil Kim (Hans Foltz) besteht. Prächtig schneidet der von Jeremy Bines einstudierte Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin ab.

Ludwig Steinbach, 24. Oktober 2023


Die Meistersinger von Nürnberg
Richard Wagner

Deutsche Oper Berlin
Inszenierung: Jossi Wieler, Sergio Morabito
John Fiore
Orchester der Deutschen Oper BerlinNaxos

Best.Nr.: 2.110766-67
2 DVDs