Berlin: „Wir wollen Musik!“

Operntage in der Deutschen Oper Berlin – !“

18. September 2019: Verdi, La forza del destino
19. September 2019: Verdi, Un ballo in maschera
20. September 2019: Mascagni/Leoncavallo, Cavalleria Rusticana,Pagliacci

Waren die harschen Proteste des Publikums bei der Premiere von Verdis Oper „La forza del destino“ (siehe Beitrag von Ingrid Wanja weiter unten) gegen die Inszenierung Frank Castorfs ein einmaliges Aufbegehren ewig gestriger Opernliebhaber? Mitnichten! Die Aufführung am 18. September 2019 bescherte eine Publikumssaalschlacht bester Güte. Laute Brüller in der Art „Wir wollen Musik“, „Schluss“, „Aufhören“, „Vorhang“, „Haut ab“ provozierten wütende Gegenattacken: „Ihr Spießer“, „Weiter“, „Ihr intolerantes bürgerliches Volk“ und riefen auch die ausländischen Besucher auf den Plan, die in bestem Englisch zum Weitermachen animierten. Leidtragende waren der bemitleidenswerte Ronni Maciel (der Indio) und seine Sprecherkollegin, deren Dialogtext aus Curzio Malapartes Roman „Die Haut“ in den Schimpfkanonaden des aufgebrachten Auditoriums unterging.

Dabei bedienen sich Castorf und sein Bühnenbildner Aleksandar Denic eigentlich konventioneller Bilder, um Verdis Ideenoper – es geht um Krieg, um die verhängnisvolle Macht schicksalhafter Ereignisse, um unschuldiges Schuldigwerden, um die Tragik einer gesellschaftlich verfemten Liebe, um Vorurteile und Ablehnung des Fremden etc. – in Szene zu setzen. Der Gasthof in Cordoba im 2. Akt hat beinahe den romantischen Touch der Schmugglerspelunke in Bizets „Carmen“ und das Renaissanceportal der Klosterkirche ist der konventionelle Background für Leonores feierlichen Rückzug in die Einsamkeit. Was aber zu Recht zutiefst an der Inszenierung Castorfs verdrießt, ist die Überflutung des Besuchers mit Videos, Texteinblendungen und eben Lesungen aus Werken von H. Müller oder Malaparte.

Dadurch werden Subtexte einbezogen, deren Sinn sich dem ob solcher Informationswut überforderten und gequälten Opernliebhaber nicht erschließt. Man tut gut daran, die Augen zu schließen – dann muss man sich auch im Schlussbild nicht über einen Pater Guardian in Lederjacke und einen Fra Melitone in einer Art Ringerkostüm wundern und aufregen – und der herrlichen Musik zu lauschen.
Denn gesungen und musiziert wird in dieser „Macht des Schicksals“ einfach wunderbar. Russell Thomas bleibt der Partie des Alvaro an tenoralem Schmelz, herrlichstem Parlando und strahlender Höhe nichts schuldig. Manchmal hat man den Eindruck, dass Russell Thomas seinen legendären Vorgänger in dieser Rolle, nämlich Carlo Bergonzi, genau studiert hat. Besser kann man den Alvaro nicht singen. Bravo! Maria José Siri verkörpert die Leonore mit Leidenschaft, großem Atem und nie nachlassender Intensität. Die Stimme klingt in der Höhe allerdings bisweilen recht scharf, berührt aber vor allem in der Tiefe, in der Mittellage und bei den Pianotönen. Ihre letzte große Arie „Pace, pace“ gelingt Frau Siri vortrefflich. Man hat den Eindruck, als habe sie sich nun endgültig frei gesungen. Markus Brück als Don Carlo di Vargas, Misha Kiria als Frau Melitone und nicht zuletzt Marko Mimica als Pater Guardian sowie Agunda Kulaeva als Preziosilla komplettieren das erlesene Sängerensemble. Jordi Bernacèr ist mit dem großartig aufspielenden Orchester der Deutschen Oper Berlin ein einfühlsamer und sängerfreundlicher Begleiter.
Einen Publikumsskandal brauchte man bei der Aufführung von Verdis „Maskenball“ am folgenden Abend nicht befürchten. Aber Ärger gab es trotzdem. Der angekündigte Startenor Piotr Beczala, als Lohengrin in Bayreuth inzwischen eine Institution, hatte abgesagt.

Immerhin konnte sich der „Ersatz“ sehen und hören lassen. Der ukrainische Senkrechtstarter im Tenorfach, Dmytro Popov, sang die Titelpartie mit leuchtender Stimme, Italienità und herrlichen Pianotönen gerade auch in seiner berühmten Schlussarie „Doch heißt dich auch ein Pflichtgebot“, aber das Fehlen der berühmten Träne in der Stimme macht dann doch den Unterschied zu den ganz großen Interpreten des Alvaro aus. In der klassischen Dreiecksgeschichte dieser Oper laufen denn auch Thomas Lehmann als gehörnter Graf René Anckarström mit samtenem, dabei aber hochexpressivem Bariton und vor allem Irina Churilova als untreue Gattin Amelia dem Schwedenherrscher in Gestalt von Dmytro Popov den Rang ab. Mit Irina Churilova geht der Stern einer wunderbaren Sopranstimme am Opernhimmel auf. Ihre ganz weich angesetzten Spitzentöne, vor allem aber die natürlich strömende Mittellage und die „bombensicheren“ Pianissimokantilenen erzeugen Gänsehaut pur. Ivan Repusic am Pult gibt der Story musikalisch den nötigen Drive.
Die Inszenierung von Götz Friedrich aus dem Jahr 1993 (!) ist mittlerweile doch arg in die Jahre gekommen. Die stilisierten Bilder setzen vor allem auf symbolträchtige Farbwerte. So signalisiert etwa schon im ersten Bild die Hintergrundfarbe Rot die drohende Bluttat auf dem abschließenden Maskenball, den der geradezu verehrte und unvergessene frühere Intendant der Deutschen Oper Berlin zu einem Höhepunkt seiner Inszenierung macht. Wie Larven bzw. Geister bewegen sich die Maskenballbesucher in ihren roten, schwarzen und weißen Kostümen in einem unheimlichen Totentanz. Das ist ein starkes Bild, das auch nach so vielen Jahren seit der Premiere seine Wirkung nicht verfehlt.

Auch die am nächsten Abend folgende Inszenierung der „Cavalleria“ und des „Bajazzo“ (20. September 2019) aus dem Jahr 2005 kann auf eine lange Aufführungspraxis zurückblicken. Die Handlung der berühmten veristischen Einakter verlegt David Poutney in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts und zitiert in seinem Bühnenarrangement den Neorealismus des italienischen Filmemachers Frederico Fellini. Schauplatz der österlichen Tragödie in der Cavalleria ist eine Autobahnbücke und eine Auffahrt, an der Mama Lucia eine Imbissbude betreibt. Bevölkert wird die Szenerie von der bäuerlichen Landbevölkerung, die an einer Prozession im Rahmen der Semana Santa teilnimmt. Der südlich blaue Himmel, das warme Sonnenlicht und das italienische Flair in Kostümen und Accessoires können über die dunklen Wolken nicht hinwegtäuschen, die drohend über dieser vordergründigen Idylle aufziehen.
Im „Bajazzo“ bleibt das Bühnenbild (Robert Innes Hopkins) aus der „Cavalleria“ bestehen. Nun aber ergeben sich durch das Verschieben einzelner Brückenelemente immer wieder neue Szenarien und Konstellationen, in denen sich das Eifersuchtsdrama des „Bajazzo“ abspielt, wobei Realität und Spiel als Ebenen verwischt werden. Auch die Opernbesucher werden in dieses Verwirrspiel als Zuschauer der Commedia del Arte- Spielhandlung immer wieder
einbezogen. Die düstere, graue Betonlandschaft lässt von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass es in diesem verzweifelten Kampf um Liebe und Anerkennung nur Verlierer geben wird.
Wem diese dekonstruktivistische Lesart die Stimmung zu verhageln drohte, der konnte sich an der glänzenden musikalischen Umsetzung der beiden Einakter laben und erfreuen. Roberto Alagna bot als Turiddu, vor allem aber dann als Canio eine schauspielerisch und sängerrisch überragende Leistung. Die Stimme mag an Schmelz ein wenig eingebüßt haben, mag etwas rauer geworden sein, gerade für das veristische Fach ist sie jedoch in der augenblicklichen Verfassung geradezu prädestiniert. Mit soviel Verve, Leidenschaft, mit derartig gleißenden Spitzentönen hat man den Turiddu, vor allem aber den Canio wohl noch nie gehört. Großartig auch Carlos Álvarez als Tonio, Aleksandra Kurzak als Nedda , Rodrigo Esteves als Alfio und vor allem Elena Zhidkova als Santuzza. Paolo Arrivabeni trieb das Orchester zu einer derartigen Dramatik und Expressivität an, dass man am liebsten die Augen geschlossen hätte, um ganz in diesen mitreißenden Musiksog einzutauchen. Das Publikum feierte alle Beteiligten, ganz besonders Roberto Alagna mit frenetischem Beifall. Und das völlig zu Recht!
Fazit: Drei musikalisch großartige Aufführungen, die einen Besuch in der Deutschen Oper Berlin unbedingt lohnen!

Norbert Pabelick, 24. September 2019

Karikaturen und Zeichnungen von Peter Klier