Hannover: „Der Traumgörge“

besuchte Vorstellung: 22.04.2016

Träumen als Notwendigkeit

Lieber Opernfreund-Freund,

das Schicksal von Alexander Zemlinskys dritter Oper „Der Traumgörge“ ist wohl so bemerkenswert wie einzigartig: Das Werk entstand in den Jahren 1904 bis 1906 als Auftragswerk Wiener Hofoper, Vorläufer der heutigen Wiener Staatsoper, unter dem damaligen Operndirektor Gustav Mahler, der Zemlinsky auch als Förderer und Freund verbunden war. Von ihm stammt beispielsweise die Anregung, den dritten Akt stark gekürzt zum nur gut 25minütigen Epilog umzuarbeiten. Die geplante Uraufführung am 4. Oktober 1907 wurde bei laufendem Probenbetrieb von Mahlers Nachfolger Felix Weingartner abgesagt, der sich an die Zusagen seines Vorgängers nicht mehr gebunden fühlte. Das Werk verschwand in den Archiven des Opernhauses und keiner kümmerte sich mehr darum, nicht einmal der Komponist selbst, obwohl der ja in der Folge selbst Musikdirektor beispielsweise an der Volksoper Wien, am Prager Neuen Musiktheater oder an der Krolloper Berlin war. Erst in den 1970ern, mehr als 30 Jahre nach Zemlinskys Tod, wurde das Werk wiederentdeckt und seit seiner posthumen Uraufführung in Nürnberg im Jahr 1980 erst drei weitere Male szenisch gezeigt: 1989 am Theater Bremen, 1991 am Theater Münster und 2007 an der Deutschen Oper Berlin. Die Staatsoper Hannover zeigt nun seit dem 16. April die erst fünfte Inszenierung des vor Melodienreichtum im schwelgerisch-spätromantischen Stil des Fin de siècle strotzenden Werkes. Zemlinsky, zu dessen Schüler Wolfgang Korngold und Arnold Schönberg gehörten, schöpft in der unheimlich farbenreichen Partitur die musikalischen Möglichkeiten seiner Zeit voll aus, lässt sich von Leitmotiven führen, die er aber stets nur sehr subtil erklingen lässt. Die Harmonik nimmt klanglich bisweilen die „Arabella“ von Richard Strauss vorweg, das Klangbild ergänzt die Geschichte, die zwischen Traum, Wirklichkeit und geträumter Wirklichkeit hin und her schwankt fortrefflich.

Leo Feld, Librettist der „lustigen Witwe“, hatte sich ausdrücklich auf die Suche nach einem anspruchsvollen Stoff mit Tiefgang gemacht. Fündig wurde er bei verschiedenen Quellen wie Heinrich Heines „Der arme Peter“ und dem Märchen „Vom unsichtbaren Königreiche“, deren Stoffe er gekonnt verwob und sich dabei wohl auch von Sigmund Freuds Schrift „Die Traumdeutung“ leiten ließ: Der Waise Görge lebt in seinen Büchern und Träumen und wünscht sich, dass sie Realität werden. Grete hingegen, mit der er sich verloben soll, kann mit Görges Art wenig anfangen, sie hat reelle Wünsche und Vorstellungen, schämt sich für Görges Hirngespinste. Der bodenständige Hans, der gerade vom Militär zurück kommt, ist da eher etwas für sie. Als Görge in einem Traum seine Traumprinzessin erscheint, verwirft er seine Hochzeitspläne, lässt die Dorfgemeinschaft hinter sich, in der er ohnehin immer Außenseiter war, und macht sich auf den Weg in die weite Welt. Etwa drei Jahre später lebt Görge an einem anderen Ort. Auch da ist er Sonderling und Außenseiter, findet aber in der als Hexe verschrienen Gertraud eine Seelenverwandte.

Da bekommt Görge die Chance, eine Gruppe von Aufständischen anzuführen, soll aber dafür den Kontakt zu Gertraud abbrechen. Er lehnt ab und bekennt sich zu ihr. Das schreiben die Dorfbewohner der Hexerei von Gertraud zu und wollen sie verbrennen. Görge rettet sie. Im Epilog leben die beiden in Görges Heimatdorf, in die Ehe von Hans und Grete ist der Alltag eingekehrt. Erst jetzt erkennt Görge in Gertraud seine Traumprinzessin.

Der aus Bonn stammende Regisseur Johannes von Matuschka spielt in seiner Inszenierung mit den verscheidenen Ebenen, läßt Traum und Wirklichkeit ineinander übergehen und lässt am Ende offen, was genau Görge jetzt geträumt, erhofft oder wirklich erlebt hat. Der erste Akt scheint sich vollkommen in Görges Träumen abzuspielen. Die märchenhaften Kostüme von Amit Epstein sind außerordentlich gelungen, im wahrsten Wortsinne verträumt, teils surreal. Im zweiten Akt wird die Musik grober, die Realität scheint Einzug in Görges Leben zu finden. Leider sind dem Regieteam hier weit weniger intensive Bilder eingefallen, die im ersten Akt und im Epilog wandelbare und beeindruckende Bühne von David Hohmann erscheint nahezu einfallslos, da helfen auch Elana Siberskis feine Lichtenfälle wenig. Erst im letzten Drittel des Aktes vermag das Geschehen dank durchdachter Personenführung wieder richtig zu fesseln, das nicht ausformulierte Ende des Aktes überzeugt. Der Epilog und das beeindruckende Schlussbild versöhnen mich: Nicht nur die Figuren aus Görges Träumen verschwinden am Schluss hinter der Gaze, auch Grete samt Hans, die Dorfgemeinschaft und Gertraud lassen Görge allein zurück. War vielleicht alles doch nur ein einziger Traum?

Die Titelfigur ist eine wahre Mörderpartie, die Ensemblemitglied Robert Künzli mit klangschönem Tenor sowie kraftvollen Ausbrüchen eindrucksvoll meistert. Zudem verfügt er über eine vorzügliche, fast liedgesanghaft deutliche Diktion, die die Übertitelung nahezu überflüssig macht – das gelingt am gestrigen Abend bei weitem nicht allen. Dass Brigitte Hahn bei ihrem Rollendebüt – die Premiere sang Kelly God – so stark am Dirigenten hängt, dass ihre ansonsten überzeugende Darstellung der Gertraud in Mitleidenschaft gezogen wird, mag sich mit ein wenig mehr Routine geben. Dass sie aber ihrer Figur – auch wenn Görge sie im Text an einer Stelle so nennt – stimmlich nur das Walkürenartige zugesteht, ist zu kurz gegriffen. Diese Partie verdient mehr Farben, mehr Facetten als die hochdramatische, mehr Süße. Da überzeugt das Pendant aus Görges Traum weit mehr, Dorothea Maria Marx verleiht der Traumprinzessin mit imposantem Mezzo einen warmem Klang. Solen Mainguené gestaltet die Grete ganz allerliebst mit silbrigem Sopran, als Hans singt und tanzt Christopher Tonkin auf ganzer Linie überzeugend und zeigt seinen geschmeidigen Bariton. Stefan Adam gibt einen beeindruckenden Kaspar, aus dem Reigen der zahlreichen kleineren Rollen sticht unbedingt Uwe Gottwinter hervor, der gestern als Züngl debüttierte. Sein beweglicher Tenor und seine ansteckende Spielfreude machen neugierig und Lust auf mehr. Der Chor wurde von Dan Ratiu auf seine anspruchsvolle Partie vorbereitet und zeigt eine glänzende Leistung und fein abgestimmte Stimmen. Am Pult badet Mark Rohde geradezu in der Partitur, zeigt genüsslich alle Farben, kostet sie voll aus und trägt bei aller Klanggewalt das Sängerpersonal gekonnt durch den Abend.

Das Publikum im leider recht spärlich besuchten Haus zeigt sich begeistert. Ich habe eher ambivalente Eindrücke, gesanglich überzeugt mich nicht alles, die erste Hälfte des zweiten Aktes lässt mich schon einmal auf die Uhr schauen. Aber erster Akt und Epilog sind außerordentlich gelungen, hörenswert ist das Werk allemal – und wer das tun will, sollte auf jeden Fall eine der verbliebenen vier Vorstellungen besuchen; wie den just gestern veröffentlichten Plänen für die kommende Spielzeit zu entnehmen ist, wird „Der Traumgörge“ 2016/17 nicht wieder aufgenommen.

Ihr Jochen Rüth aus Köln / 23.04.2016

Bilder (c) Jörg Landsberg / Premierenbesetzung mit Kelly God als Gertraud.

OPERNFREUND CD TIPP

Anmerkung: Leider wird diese ungekürzte Komplettaufnahme zu geradewegs unverschämten Preisen gehandelt – Es empfiehlt sich daher der MP3 Download.

Für Nicht-Puristen, die das Stück ohnehin für viel zu lang halten (wie der Opernfreund-Hrg. 😉 empfehle ich die Cappriccio Aufnahme die m.E. mit Albrecht den besseren Dirigenten hat und auch sonst die (in meinen Ohren) durchaus bessere Besetzung. Ich empfinde die Kürzungen als unwesentlich.
Peter Bilsing 24.4.16