Bremen: „Wozzeck“

Besuchte Aufführung: 20.3.2016

Premiere: 13.2.2016

Ewiger Kreislauf ohne Hoffnung

Die letzte Inszenierung von Bergs Oper „Wozzeck“ am Theater Bremen erfolgte bereits vor 45 Jahren. Es war mithin höchste Zeit für eine Neuproduktion. Und diese ist, um es vorwegzunehmen, in hohem Maße gelungen. Was an diesem Abend über die Bühne des Bremer Theaters ging, war imposantes, hoch spannendes Musiktheater, das einen gänzlich in seinen Bann zog.

Claudio Otelli (Wozzeck)

Die Regie lag in den bewährten Händen von Paul-Georg Dittrich, das Bühnenbild und die Kostüme besorgten Pia Dederichs und Lena Schmid. Das durchweg dunkel ausgeleuchtete Bühnenbild wird von einer aus mehreren Stockwerken bestehenden Stahlkonstruktion eingenommen, die sich mit Hilfe der Drehbühne ständig um sich selbst dreht. Es ist eine sehr modellhafte Welt, die hier vorgeführt wird, aus der es kein Entkommen gibt. Die Handlungsträger sind vom Anfang bis zum Ende in das Innere dieses von einer kalten Sonne beschienenen Labyrinths eingeschlossen. Auf Leinwänden erfährt das dramatische Geschehen durch Jana Findeklee s Videoprojektionen eine nicht immer appetitliche, oftmals blutige Kommentierung. Hier haben wir es mit einem geschlossenen System zu tun, in dem die Emotionen leicht überkochen und in eine Katastrophe münden können. Das Fehlen jeglicher Art von Privatsphäre hat daran regen Anteil. Nirgendwo sind die handelnden Personen für sich allein. Alle Raumsegmente bestehen aus transparentem Plexiglas oder Plastikfolie. Jeder ist für jeden jederzeit sichtbar. Sämtliche Figuren sind von Anfang an auf der Szene und harren der Dinge, die da kommen werden.

Claudio Otelli (Wozzeck), Nadine Lehner (Marie)

Dabei findet seitens der Regie keine eindeutige zeitliche Einordnung statt. Dittrich geht es vielmehr darum, die zeitenübergreifende Essenz, ja sogar das Zeitlose der dargestellten Konflikte herauszustellen und dabei die Wozzeck ausgrenzende und missbrauchende Gesellschaft gnadenlos zu hinterfragen. Die Handlung spielt sich auf mehreren Zeitebenen ab. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit ihrem jeweiligen Zeitgeist reichen sich die Hände und leisten damit verschiedenen Ästhetiken Vorschub. Der von seiner Umwelt ziemlich gebeutelte Wozzeck und die als Flittchen im Minirock vorgeführte Marie sind Gestalten der Gegenwart. Der reichlich clowneske Hauptmann, der im roten Morgenmantel auftretende Doktor und der Tambourmajor sind eher der Vergangenheit entsprungen und werden vom Regisseur obendrein reichlich skurril gezeichnet. In die Zukunft weisen dagegen die beiden Handwerksburschen in klinisch weißem Gewand samt riesigen Schlüsseln auf dem Rücken.

Es ist schon eine äußerst eigenwillige Mischung verschiedenster Charaktere und Figuren, die hier zusammenkommt und die Dittrich mit Hilfe einer ausgelassenen, und doch stringenten Personenregie trefflich zu führen vermag. Ihm ist wirklich nicht das Geringste anzulasten, er versteht sein Handwerk ausgezeichnet. Immer wieder gelingen ihm starke Bilder von großer Eindringlichkeit. So wenn der die Gesellschaft symbolisierende Chor auf einmal rote Hände hat und damit vom Regisseur eine Mitschuld an den tragischen Ereignissen zugesprochen bekommt. Oder wenn Marie nach ihrem Beischlaf mit dem Tambourmajor unter der Dusche krampfhaft versucht, die Sünde von sich abzuwaschen, angesichts der ihr von dem Liebhaber geschenkten Ohrringe aber unvermittelt wieder in Entzücken gerät. Die Liebe ist hier keine reine, sondern eine der Lust und materiellem Gewinn durchaus zugängliche Größe. Der einzige wahrhaft Liebende ist Wozzeck, obwohl er den Gegenstand seiner aufrichtigen Liebe, Marie, zu guter Letzt aus Eifersucht tötet. Er ist gleichzeitig Täter und Opfer und wird schließlich vom Volk gemeuchelt. Es ist eines der eindrucksvollsten Bilder der Produktion, wenn er gleichsam von den Chormassen verschluckt wird, in ihnen sozusagen „ertrinkt“.

Besondere Bedeutung kommt in Dittrichs Interpretation den Kindern zu, denen hier auch die Worte des Narren anvertraut sind. Sie erscheinen durchaus nicht als Träger einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sondern unterscheiden sich in Nichts von ihren rohen, grausamen Eltern. Die Erziehung erfolgt per Bildschirm, vor dem die Kleinen immer wieder Platz nehmen. Zu Präzision und Reinlichkeit werden sie auf diese Weise angehalten. Artig und sauber sein heißt die Devise. Oberstes Gebot ist der Gehorsam. Ungehorsam zieht Strafe nach sich. Eine andere Art der Erziehung ist den Kindern fremd. Bereitwillig saugen sie die auf sie eindringenden Parameter in sich auf und suchen sich in Wozzecks und Maries Sohn auch gleich ihrerseits ein passendes Opfer aus. Er wird von ihnen zum neuen Wozzeck erhoben und in gleicher Weise misshandelt wie zuvor sein Vater von ihren Eltern drangsaliert wurde. Während des letzten Zwischenspiels gehen die Handlungsträger allesamt auf die Plätze des Anfangs zurück. Nun steht die Drehbühne endlich einmal still. Das Spiel kann von neuem beginnen. Es ist ein ewig währender Kreislauf, der hier geschildert wird und den keiner anhalten kann und das auch nicht will. Eine der abschließenden Repliken von Doktor und Hauptmann wird hier vom Tambourmajor übernommen. Ihn trifft dieselbe Schuld an Wozzecks Tod wie sie. Die durch den am Ende aufscheinenden bunten Regenbogen angedeutete Zuversicht trügt. Das Ganze endet in Hoffnungslosigkeit – ein sehr pessimistischer Schluss.

Wie bereits einen Tag zuvor beim Rigoletto bewies Claudio Otelli auch an diesem Abend, dass ihm die gebrochenen, geschundenen Charaktere vorzüglich liegen. Sein Wozzeck war ein durch und durch gebrochener, verzweifelter Mensch, missbraucht und gedemütigt. Alle diese Aspekte hat er mit intensivem Spiel ausgezeichnet vermittelt. Auch gesanglich vermochte er mit seinem kraftvollen, prägnant und wortdeutlich eingesetzten Bariton gut zu gefallen. Eine Glanzleistung erbrachte Nadine Lehner als Marie, für die sie schon rein äußerlich ideal besetzt war. Bereits ihre expressive Darstellung vermochte nachhaltig zu beeindrucken. Aber auch stimmlich ging sie mit ihrem über satte tiefe und gut fundierte hohe Töne verfügenden, hervorragend italienisch geschulten Sopran, den sie sehr nuanciert und farbenreich einzusetzen wusste, voll in ihrer Rolle auf. Bestens fokussiertes, klangvolles Tenormaterial brachte Hyojong Kim für den Andres mit. Martin Nyvall sang den Hauptmann sehr charaktervoll in die Maske. In der Mittellage solide, im oberen Stimmbereich dünn gab Christoph Heinrich den Doktor. Überzeugend war der markant und gut gestützt intonierende Tambourmajor von Christian-Andreas Engelhardt. Eine tadellose Margret stand in Anna-Maria Torkel zur Verfügung Vokal ansprechend bewährte sich Daniel Ratchev als Erster Handwerkbursche. Beim Zweiten Handwerkburschen hatte an diesem Abend der Krankheitsteufel zugeschlagen. Eine Lösung war indes schnell gefunden: Während Jörg Sändig die Partie spielte, sang Wolfgang von Borries den Part von der Seite aus ein, dies aber etwas flach. Als Mariens Knabe gefiel der kleine Max Geburek. Ganz vorzüglich machte der von Daniel Mayr einstudierte Chor und Kinderchor des Theaters Bremen seine Sache. Vor allem den Kindern ist für ihre exzellente Leistung ein großes Lob auszusprechen.

Am Pult zeigte sich Markus Poschner voll in seinem Element. Zusammen mit den versiert aufspielenden Bremer Philharmonikern lotete er Bergs Musik in allen ihren Feinheiten sehr expressiv, differenziert und farbenreich aus. Dabei versteifte er sich nicht auf einen spitzen, unterkühlten Klang, wie man ihn bei diesem Werk oft erlebt, sondern legt dem Ganzen eine mehr gefühlvolle Tongebung zugrunde.

Fazit: Das war hoch anspruchsvolles, anspruchsvolles Musiktheater, das die Fahrt nach Bremen einmal mehr voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 22.3.2016

Die Bilder stammen von Jörg Landsberg