Landshut: „Carmen“

Besuchte Aufführung: 20.6.2015, (Premiere in Landshut: 22.5.2015)

Plädoyer für Flüchtlinge und Vertriebene

Sehr überzeugend präsentierte sich die Neuproduktion der „Carmen“ im Theaterzelt Landshut. Um es vorwegzunehmen: Bei dieser rundum gelungenen Inszenierung handelt es sich um ein wahres Schmuckstück in Sachen hochkarätigen modernen Musiktheaters und einen echten Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Werkes. Hier ist dem schon oft bewährten Landestheater Niederbayern wieder einmal ein großer szenischer Wurf gelungen, der vollauf zu begeistern wusste und meinen Wahlspruch „Verachtet mir die kleinen Häuser nicht“ erneut bestätigt hat.

Hatte man von dem berühmten Münchner Choreographen Jonathan Lunn eine vom Tanz geprägte Inszenierung erwartet, sah man sich getäuscht. Auch verzichtete er Gott sei Dank auf jede Art von altbackenem Folklore-, Kastagnetten- und Stierkampfklischee, das in der Vergangenheit mit dem Werk oft verbunden wurde. Darüber, dass derartiger überflüssiger Kitsch Bizets Oper in unserer heutigen Zeit nicht gut bekommen würde, war sich der Regisseur im Klaren und wählte demzufolge einen zeitgemäßen Ansatz – und hat damit voll ins Schwarze getroffen. Die Art und Weise, wie er die „Carmen“ auf die Bühne gebracht hat, atmete hohe Aktualität und begeisterte auf der ganzen Linie. Dabei hat er gekonnt auch Brecht’sche Elemente in seine Deutung einbezogen, so wenn er Carmen aus dem hell erleuchteten Zuschauerraum auftreten und die erste Strophe der Habanera im Publikum singen lässt – ein genialer Einfall!

Es war nicht von ungefähr, dass die Theaterleitung gerade für den am 20. Juni stattfindenden ersten Gedenktag an Flüchtlinge und Vertriebene eine Aufführung dieser Produktion angesetzt hat. Denn genau bei dieser Thematik setzt Lunn mit seiner Konzeption an. Er verlegt das Stück von Sevilla in den Mittelmeerraum und lässt das Ganze in einem von Huntley Muir – von ihm stammen auch die gelungenen Kostüme – geschaffenen umzäumten und von gelangweilten Soldaten bewachten Flüchtlingslager spielen, das auch Assoziationen an einen Käfig oder ein Ghetto hervorruft. Eindringlich beschwört der Regisseur das ganze Elend der Flüchtlinge und Vertriebenen herauf, zeigt ihre Abhängigkeit von Schlepperbanden und ihre Ohnmacht gegenüber den Angriffen ausländerfeindlicher, schwarz gekleideter Terroristen mit Strumpfmasken, die ganz und gar Ausfluss der mafiösen Strukturen sind, die heutzutage im Mittelmeerraum vorherrschen. Der in einem schicken schwarzen Anzug auftretende Escamillo ist hier kein traditioneller Torero, sondern der Chef dieser anrüchigen Gesellschaft. Gleichzeitig hat er aber auch etwas von einem Show-Star an sich, der ganz genau weiß, wie man das Volk glücklich machen und von den gravierenden politischen Problemen des Alltags ablenken kann.

Martha O’Hara (Micaela)

Genau auf diese will Lunn aber hinweisen und bedient sich dazu gekonnt der Opernbühne. Sein Ziel ist klar: Mitleid zu erregen mit all den Flüchtlingen und Vertriebenen, die in der letzten Zeit mit Booten von Afrika über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, und sie barmherzig aufzunehmen. Mit seinem flammenden Plädoyer gegen Ausgrenzung und Zurückweisung von auf der Flucht befindlichen Personen tritt er voll und ganz in das Fahrwasser von Präsident Gauck, der vergleichbaren Gruppen ja schon eine nicht unerhebliche Rolle beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bescheinigt hat und ihren gegenwärtigen Schicksalsgenossen bei allen Unterschieden in Herkunft und Mentalität eine menschliche und wirtschaftliche Bereicherung der EU attestiert. Wie Gauck setzt sich auch Jonathan Lunn für Offenheit und Akzeptanz gegenüber den heutigen Flüchtlingen ein, die für unsere Gesellschaft ein Gewinn sein können, und fordert nachdrücklich dazu auf, ihnen eine sichere Zukunft zu geben. Dass es eine moralische Pflicht ist, Bootsflüchtlinge vor dem Tod im Mittelmeer zu retten, darin sind sich Bundespräsident und Regisseur einig.

Young Kwon (Escamillo)

In diesen Kontext fügt sich Carmen nur schwer ein. Auch ihr lässt der Regisseur eine gänzlich unkonventionelle Deutung zukommen und zeichnet sie als starke, selbstbewusste moderne Frau, die ihren eigenen Willen hat und im Kastagnetten-Lied des zweiten Aktes mit einem Ring den Takt dazu schlägt. Stolz und freiheitsliebend lässt sie sich weder der Gesellschaft noch den Flüchtlingen und Vertriebenen eindeutig zuordnen. Sie schwankt zwischen beiden Kollektiven hin und her und ist unfähig, sich für eine Seite zu entscheiden. Nicht Politik bestimmt ihr Dasein, sondern Freiheit und Liebe. Diese Begriffe sind im dritten Akt in verschiedenen Sprachen auf eine Rückwand geschrieben. Ihre Unfähigkeit, Farbe zu bekennen, lässt sie zunehmend zwischen die Stühle geraten. Aus diesem Dilemma kann ihr der von der Regie bewusst kühl und sachlich vorgeführte Don José auch nicht helfen. Sie gibt ihm im ersten Akt keine Blume, sondern ihr Oberteil, das sie zuvor ausgezogen hat. Die Vielschichtigkeit seiner Beziehung zu Carmen offenbart sich zudem in zwei kindlichen Alter Egos, die Lunn in trefflicher Anwendung der Lehren Sigmund Freuds den beiden zur Seite stellt. Diese ergehen sich ebenfalls in den unterschiedlichsten Befindlichkeiten. Mal helfen sie sich gegenseitig, mal streiten sie sich so stark um ein Plüschtier, dass dieses fast dabei zerstört wird. Am Ende kann das Mädchen den Kampf für sich entscheiden. In der eigentlichen Opernhandlung ist es umgekehrt, da behält Don José die Oberhand und Carmen muss untergehen. Entgegen der Tradition ersticht er sie hier nicht, sondern erwürgt sie mit bloßen Händen. Das war alles sehr gut durchdacht und mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch hervorragend umgesetzt. Mit dieser grandiosen, atmosphärisch dichten, eine beklemmende Aktualität aufweisenden und geradezu preisverdächtigen Inszenierung hat Lunn ganz den Nerv der Zeit getroffen. Bizets Oper und die Wirklichkeit sind hier eine ganz vorzügliche, in hohem Maße aussagekräftige Symbiose von enormer Eindringlichkeit eingegangen, deren ausgesprochen humaner Anspruch zeitlose Gültigkeit beansprucht. Bravo!

Ensemble

Bereits bei den ersten Takten der Ouvertüre stand fest, dass das auch in musikalischer Hinsicht ein außergewöhnlicher Abend werden würde. GMD Basil H. E. Coleman und die bestens disponierte Niederbayerische Philharmonie zeigten sich voll in ihrem Element. So rasend schnell, so rasant und hitzig hat man die Einleitung sonst nur noch von Carlos Kleiber und Dan Ettinger gehört. Das ging wahrlich unter die Haut. Auch im Folgenden dirigierte Coleman mit feurigem, vorwärtsdrängendem und spannungsgeladenem Impetus. Sehr markant gerieten die mit ausgeprägter Wucht ausgeführten Orchesterschläge. Insgesamt wirkten die Akzente sehr prägnant, schwer und unheilschwanger. Dabei war das Klangbild durchweg sehr rationaler und kräftiger Natur. Zu Recht ernteten Dirigent und Orchester am Ende großen Applaus seitens des begeisterten Publikums.

Von den Sängern ist an erster Stelle Franziska Rabl zu nennen, die sich als Idealbesetzung für die Carmen erwies. Darstellerisch gab sie sich sehr resolut und aufgeweckt. Gesungen hat sie mit glutvollem, sinnlich eingefärbtem Mezzosopran, der über vielfältige Farben und Nuancen verfügt, derart feurig und intensiv, dass es eine Freude war, ihr zuzuhören. Gänzlich ungewohnt erschien Martha O’ Hara als Micaela mit Kurzhaarschnitt, in Cordhosen und mit blauer Reisetasche. Schon darstellerisch recht intensiv, vermochte sie auch gesanglich mit ihrem eine solide Fokussierung aufweisenden, warm und gefühlvoll geführten Sopran voll zu überzeugen. Ein eleganter, charismatischer Escamillo war Young Kwon, der seiner Rolle mit klangschönem, sonorem und ausdrucksstarkem Bariton auch vokal gut entsprach. Indes war nicht zu überhören, dass Französisch nicht seine Muttersprache ist. Gegenüber seinen Mitstreitern in den Hauptpartien hatte der zwar schauspielerisch überzeugende, aber nur mit flachem, einer soliden tiefen Stütze seines Gesangsapparates abholdem Tenormaterial ausgestattete Don José von Joska Lehtinen einen schweren Stand. Famos schnitt der den Zuniga profund und obertonreich singende Kyung-Chun Kim – auch Co-Besetzung für Escamillo – ab. Kräftig und mit solider Verankerung ihres Soprans legte sich Emily Fultz als Frasquita ins Zeug, während Mandie de Villiers’ Mercedes etwas dünn klang. Ein solider Morales war Peter Tilch, der auch den Dancairo gab. Flachstimmig sang Albertus Engelbrecht den Remendado. Als kleine Doppelgänger von Carmen und Don José gefielen Alexandra Tilch und Peter Jarzombek. Bei dem von Christine Strubel einstudierten Chor des Landestheaters Niederbayern schnitten die Damen besser ab als die Herren, das gilt insbesondere für die Tenöre.

Ludwig Steinbach, 22.6.2015

Die Bilder stammen von Peter Litvai