Wiesbaden: „Follies“, Stephen Sondheim

Als Stephen Sondheim im November 2021 im gesegneten Alter von 91 Jahren starb, rühmten die Nachrufe ihn als anspruchsvollsten Musical-Komponisten des 20. Jahrhunderts. Kreativ und „sophisticated“ habe er das Erbe der großen Shows der „goldenen Ära“ aus den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten angetreten, um es zu revolutionieren und die Türen aufzustoßen für eine neue Art Musical, das Publikumswirksamkeit mit Tiefgang verbindet. Sein 1971 uraufgeführtes Stück „Follies“ gilt als Meilenstein dieser Entwicklung. Der sichtbarste Bruch mit dem „Musical Play“ alter Schule ist das Fehlen einer Handlung im eigentlichen Sinne. Ausgangspunkt ist eine Situation: Ein ehemaliges Show-Theater soll abgerissen werden. Der einstige Impresario, inzwischen ein Greis, lädt die Stars seiner Revuen aus alten Zeiten zu einer letzten Party am Ort ihrer vergangenen Erfolge ein. Darunter sind Sally und Phyllis, die inzwischen unglücklich verheiratet sind und mit ihren ebenfalls angereisten Ehemännern Buddy und Ben ihre toxischen Beziehungen ausbreiten. Kontrastiert wird dies durch Gala-Auftritte anderer inzwischen gealterter Show-Größen: Golden Girls on Stage. Aus letzterem bezieht das Stück seine Publikumswirksamkeit. Zum einen nutzt Sondheim diese Nummern zu lustvoll ausgespielten Stilzitaten. Zum anderen prunken Aufführungen des Stückes immer damit, diese Nebenrollen mit gealterten Theaterlegenden zu besetzen. Auf dem Besetzungszettel der deutschen Erstaufführung im Jahr 1991 etwa standen so klangvolle Namen wie Brigitte Mira, Margot Hielscher, Alice und Ellen Kessler.

Oldies, but Goldies / © Lena Obst

Das Staatstheater Wiesbaden nimmt diese Tradition auf, reduziert auf lokale Verhältnisse, und bietet neben der Fernsehschauspielerin April Hailer mit Annette Luig und Sharon Kempton verdiente langjährige Ensemblemitglieder oder gern gesehene Gäste wie Andrea Baker, die lustvoll ihr „Ich bin noch da (I’m still here)“ mit Leben erfüllen. Im Bühnenbild von Bettina Kurz ist das ehemalige Theater bereits eine Ruine, in der auf mehreren Ebenen die Abschiedsparty steigt, und die bei Drehungen um die eigene Achse auch den Backstage-Bereich als Ort der Vergangenheit freilegt. Hier sehen sich die beiden verkrachten Paare in Erinnerungen schwelgend mit jüngeren Versionen ihrer selbst konfrontiert. So trauern sie verpaßten Chancen nach und treten schließlich mit ihrer Vergangenheit in vorwurfsvollen Kontakt: „All die Dinge, die ich nie hatte. Dafür wirst du bezahlen!“ Frederike Haas als Sally überzeugt dabei in der Rolle der frustrierten Hausfrau, während Jaqueline Macaulay den bissigen Zynismus der Phyllis grandios auskostet. Neben diesen starken Frauen bleiben Dirk Weiler und Thomas Maria Peters als ihre Ehemänner eher blaß, was auch für ihre Gesangsleistungen gilt. Werkadäquat hält die Inszenierung von Tom Gerber lange ihr Pulver trocken, bevor sie es mit Solonummern am Schluß, in welchen die vier Protagonisten ihre „Follies“, also: Torheiten, verarbeiten, mit einem sprühenden Feuerwerk abfackelt.

© Lena Obst

Wirkungsvolle Choreographien von Myriam Lifka, bei denen insgesamt über ein Dutzend Tänzer zum Einsatz kommt, und ein saftiger Orchestersound, der Sondheims Stilzitate gekonnt serviert, tragen zur authentischen Show-Atmosphäre bei. Orchesterleiter Albert Horne läßt es sich nicht nehmen, in der Maske eines Tattergreises den Impresario selbst zu gestalten und dazu immer wieder aus dem Orchestergraben auf die Bühne zu klettern.

Ambivalent ist hier wie in anderen Musicals die Verwendung von deutschen Übersetzungen anstelle des englischen Originals. Einerseits entspricht dies der Idee, gesprochene Dialoge und gesungene Texte in einem bruchlosen Zusammenhang zu präsentieren und es für das heimische Publikum einfach zu machen, der Handlung in seiner Muttersprache zu folgen. Andererseits geht damit auch einiges von dem authentischen Sprachwitz und der Satzmelodie verloren, für die gerade Sondheim als sein eigener Songtexter zu recht berühmt ist. Auch wirken deutsche Übersetzungen immer etwas bemüht und altbacken. Da es auch mit der Textverständlichkeit trotz Mikrophonierung gerade beim Gesang nicht immer zum Besten bestellt ist, wäre hier eine bei Opernaufführungen inzwischen zum Standard gehörende Übertitelung hilfreich gewesen. Und dann hätte man zumindest die Gesangsnummern auch in der Originalsprache bringen können.

© Lena Obst

In den ebenso informativen wie kurzweiligen Einleitungstexten, die Florian Delvo für das Programmheft verfaßt hat, findet sich die Anmerkung, daß die große Anzahl an Sängern, Tänzern und Musikern eine Herausforderung für das Budget eines Theaters sei. Mit einem Augenzwinkern wird hinzugefügt, daß man ein solches Wagnis am Ende einer Intendanz durchaus eingehen könne. Das Ergebnis überzeugt, und die bereits beachtliche Auslastung der angesetzten Vorstellungen spricht dafür, daß das Staatstheater Wiesbaden hier einen verdienten Erfolg gelandet hat.

Michael Demel, 12. November 2023


Follies
Musical von Stephen Sondheim

Staatstheater Wiesbaden

Besuchte Vorstellung am 9. November 2023
Premiere am 21. Oktober 2023

Inszenierung: Tom Gerber
Choreographie: Myriam Lifka
Musikalische Leitung: Albert Horne
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Weitere Vorstellungen am 15. und 19. November, 9. und 31. Dezember 2023, 19. Januar, 10. Februar, 8. und 31. März, 8. und 27. Juni 2024