Paris: „La Périchole“, Jacques Offenbach

Noch etwas Neues zu Jacques Offenbach? Eigentlich könnte man davon ausgehen, dass nach dem fabelhaften Jubiläumsjahr 2019 so ungefähr alles gesagt, geschrieben, gesungen und vor allem gespielt wurde. Doch die Offenbach-Forschung geht stetig weiter und nach der vollständigen Fassung der „Vie parisienne“ letztes Jahr hat das Palazzetto Bru Zane nun diesen Herbst „La Périchole“ neu editiert. Der Unterschied zu den vorigen Fassungen ist nicht so spektakulär wie bei dem „Pariser Leben“ – deswegen gehen wir jetzt auch nicht darauf ein und macht das Palazzetto auch keine neue CD-Aufnahme. Aber die neue Edition ist wohl die Gelegenheit für ein wunderbares Come-back des Bühnenteams, das ein Meilenstein in der Offenbach-Rezensionsgeschichte war. Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, was für einen schlechten Ruf die Operette in den Jahren 1970/80 noch in Frankreich hatte. Bis der Direktor der Oper in Lyon Jean-Pierre Brossmann 1997 den blutjungen Regisseur Laurent Pelly einlud mit dem damals ebenfalls noch startenden Dirigenten Marc Minkowski für Offenbachs „Orphée aux Enfers“. Als Brossmann 1999 die Leitung des Théâtre du Châtelet in Paris übernahm – in Nachfolge von Stéphane Lissner, der in dem traditionsträchtigen Haus das Genre Operette vollkommen verbannt hatte – lud er das Duo wieder ein für „La Belle Hélène“ und „La Grande-Duchesse de Gérolstein“, die inzwischen legendär geworden sind. Marc Minkowski – den man bis dato nur als Barock-Spezialisten kannte – entpuppte sich bei dieser Gelegenheit als kongenialer Offenbach-Interpret. Laurent Pelly auch: er hat seitdem 14 Opern von Offenbach inszeniert! Und nun, nach zwanzig Jahren, beugen sich beide über „La Périchole“ – ein Fest für Augen und Ohren!

© Vincent Pontet

Dass diese opéra-bouffe in Deutschland kaum bekannt ist und auch in Frankreich viel seltener gespielt wird als die vier obengenannten „Dauerbrenner“, hat weniger mit ihrer Musik zu tun. Denn einigen Arien begegnet man überall. So sang die große Offenbach-Interpretin par excellence Hortense Schneider (die seine größten Rollen uraufgeführt und tausende Male gesungen hatte) an Offenbachs Beerdigung die bewegende Brief-Arie …der Périchole. Das Problem ist deutlich das düstere Sujet: es geht um eine arme Straßensängerin. Und trotz Hortense Schneider in der Hauptrolle war schon die Uraufführung 1868 kein richtiger Erfolg. 1874 verlängerte Offenbach das Werk um einen Akt, doch das verlängerte Happy End spielt in einem Gefängnis… Und inzwischen existierten auch die Herrscher nicht mehr, die in Offenbachs Opern so herrlich karikiert wurden. Hier: „der König von Peru“, der inkognito auf Jagd nach neuen Mätressen sich in einer dunklen Gasse verliebt in die bildschöne, brotlose Straßensängerin Périchole. Nach viel Essen und Trank wird sie im Palast installiert und – völlig betrunken – als „Gräfin“ dem Hof vorstellt. Das Pariser Publikum erkannte darin mühelos die Maitressenwirtschaft von Kaiser Napoleon III, doch nach dem Krieg von 1870 war das inzwischen kein interessantes Thema mehr. Nun hat die Dramaturgin Agathe Mélinand, die schon seit 30 Jahren mit Laurent Pelly zusammenarbeitet, die gesprochenen Dialoge so neugeschrieben, dass wir uns heute darin erkennen können und vor allem darüber lachen können. Die Arme-Leute-Bühnenoptik hat auch uns genauso wenig gefallen wie dem damaligen Premieren-Publikum. Aber das war ja nur der optische Rahmen, denn der beschwingende Abend war alles außer trostlos. Das lag an der fulminanten Personenregie, vor allem des durch Salvatore Caputo exzellent vorbereiteten Choeur de l’Opéra de Bordeaux, der genauso gut tanzte, wie spielte und sang!

© Vincent Pontet

Bei den Sängern möchte man eigentlich niemand hervorheben, weil der Erfolg des Abends eine Teamleistung war eines wirklich eingeschworenen Teams. Denn alle Dartsteller hatten im Vorfeld mit Laurent Pelly und Marc Minkowski schon Offenbach gespielt und gesungen und der Chor und viele Solisten waren schon 2018 in der „Périchole“ in Bordeaux dabei, die dann als CD-Buch beim Palazzetto Bru Zane erschien (wir haben darüber berichtet). So meinten viele Beteiligten, sie hätten das Gefühl „en famille“ zu arbeiten – eine lebhafte Offenbach-Familie! So war Antoinette Dennenfeld als Périchole (für mich) hauptsächlich eine Schauspielerin, so wie es Hortense Schneider bei der Uraufführung auch gewesen sein muss (denn sie hatte keine ausgebildete Stimme, dafür aber unendlich viel Charme). Da hat uns 2018 in Bordeaux Aude Extrémo als Périchole doch mehr berührt. Denn das war kein Sopran oder „leichte“ Operettensängerin, sondern ein Mezzo mit tiefer Bruststimme, die der Figur mehr „Tiefe“ gab/gibt. (Diese scheint übrigens die „Zweitbesetzung“ Marina Viotti zu besitzen, die in den Medien in den höchsten Tönen bejubelt wurde). Bei Stanislas de Barbeyrac, den Marc Minkowski vor vier Jahren als Renaud in „Armide“ an die Wiener Staatsoper mitgebracht hat und der seitdem dort regelmäßig wieder singt, hat mir ebenfalls das Spiel am besten gefallen – was wieder mitnichten heißt, dass ich irgendwie etwas an seinem Gesang auszusetzen hätte. Das auffällige war eben (für mich), wie er – den man auch auf der Bühne eher schüchtern kennt – sich hier „en famille“ vollkommen gehen ließ: ich habe nie Piquillo als solch wilden Rock ‘n‘ Roll Sänger erlebt! Alexandre Duhamel, auch schon 2018 in Bordeaux dabei, war wieder ein überaus spielfreudiger König Don Andrès de Ribeira mit sonorer und ebenfalls immer fein geführter Stimme, äußerst witzig begleitet durch seine Hofschranzen Lionel Lhote als Don Pedro de Hinoyosa und Rodolphe Briand als Don Miguel de Patanellas. Auch die kleineren Rollen waren überaus spielfreudig : die beiden Notare Mitesh Khatri und Jean-Philippe Fourcade (zwei Tenöre vom Chor) und die drei Wirtshausdamen Alix Le Saux, Eléonore Pancrazi und Natalie Pérez.

Der König des Abends war Marc Minkowski. Denn er und seine Musciens du Louvre dirigierten/spielten das alles nicht nur mit ihrem üblichen Können – sie gelten in Frankreich als die Offenbach-Spezialisten. Sie waren deutlich auch von einer solch überbordenden guten Laune, dass in den Schluss-Cancans die Orchester-Musiker mitgesungen haben und dabei (spielend und singend!) auch noch in Gruppen aufgestanden sind. Das alles, während das sonst so steife und vornehme Publikum des Théâtre des Champs-Élysées rhythmisch mitgeklatscht hat und dabei durch Minkowski dirigiert wurde. Das habe ich noch nie erlebt!

Der Grund für so viele gute Laune war ein doppelter Geburtstag: der Dirigent wurde kurz vor der Premiere 60 und sein Ensemble 40 Jahre alt. Wenn man ihn und seine Weggefährten länger kennt, kann man sich das gar nicht vorstellen, denn sie haben alle ihre Frische und ihren Enthusiasmus behalten, mit dem sie sich als Zwanzigjährig in die Musik gestürzt haben. Bei dieser Gelegenheit erscheint eine Autobiografie, die Marc Minkowski interessanterweise „Confessions“ genannt hat („Bekenntnisse“, sowie die Memoiren von Jean-Jacques Rousseau). Sie geben einen berührend offenen Einblick in sein Musiker-Leben und werden hoffentlich auch eines Tages ins Deutsche übersetzt. Sei es nur um zeigen, welch prägenden Einfluss Nikolaus Harnoncourt auf eine ganze Generation junger Musiker ausgeübt hat – auch in Belgien, Frankreich und Holland! Dieses Musikerschicksal, mit Aufstehen und Fallen zwischen Paris und Salzburg, etc hat erstaunlich viel Gemeinsamkeiten mit einem weiteren Buch, das zeitgleich erscheint: „Jacques Offenbach, der Europäer“ über das internationale Symposium in Köln und Paris (im Juni 2019). In dem dicken Band (500 Seiten) sieht man bildlich wie viel noch nicht bearbeitete Themen und ungestellte Fragen es immer noch gibt. Denn das quirlige Multitalent hat ganze 110 Bühnenwerke komponiert, von denen sogar ich (der schon viel über ihn geschrieben hat) kaum die Hälfte kennt. Also in diesem Sinne: Ja es gibt noch viel Neues zu Jacques Offenbach zu berichten!

Waldemar Kamer, 20.11.2022


„La Pericholle“ Jacques Offenbach

Paris – Théâtre des Champs-Elysées

Aufführung 18.11.2022

Dirigat: Marc Minkowski

Les Musiciens du Louvre

Chorleitung: Salvatore Caputo

Choeur de l’Opéra National de Bordeaux