Nürnberg: „Armide oder Schwein gehabt“, frei nach Gluck

Kurz vor Beginn der Aufführung fällt mir ein Buch über das neue Schauspielhaus Nürnberg in die Hände. O-Ton Friedrich Schirmer, 2010: „Was wir Theaterleute immer unterschätzen, ist die energetische Interaktion mit dem Publikum. Darüber wissen wir viel zu wenig. Was während einer Aufführung passiert, wenn sich im Zuschauerraum eine geballte Ladung von 700 Kraftwerken versammelt, die implodieren oder explodieren können.“ Was während einer Aufführung passiert, wenn sich im Zuschauerraum eine geballte Ladung von nicht mehr als 100, dafür aber sehr jugendlichen Kraftwerken versammelt, kann man sich vorstellen, wenn man sich in eine Kinderoper in den Kammerspielen des Nürnberger Schauspielhauses beamt. Das Gejohle ist nicht allein vor der „Show“ ohrenbetäubend – auch während der Aufführung kreischen und rufen und interagieren die Kleinen fleißig mit. Ein paar Jungs tauchen sogar ängstlich ab, als sich die Titeldame daran macht, das Publikum zu verhexen. Ist das ein gutes Zeichen? Sicher! Denn wo wird Oper sonst noch so ernst genommen?

© Pedro Malinowski

Armida oder Der Zickenkrieg im Zauberreich, so hieß die Produktion noch im Jahre 2012. Nun hat sie einen neuen Untertitel bekommen: Schwein gehabt, aber ist es wirklich nur eine Wiederaufführung? Damals zeichnete Ulrich Protschka für die Regie verantwortlich, nun ist es Chiara Cosima Caforio. Aber das Operchen ist immer noch von Wiebke Hetmanek und Johann Casimir Eule, und Andreas Paetzold hat immer noch die Leitung inne, am Mittag allerdings der junge Otto Itgenshorst, der am Tasteninstrument sitzt und das Sextett aus Mitgliedern der Staatsphilharmonie Nürnberg anführt. Die lustigeren Nummern, die sie zu spielen haben, wurden aus Glucks Pilgern von Mekka ausgeschnitten, anderes kam auch aus Orfeo: nämlich der Hit aller Gluck-Hits. Vieles, ja Wesentliches hat sich geändert: die Bühne, das Design, die Kostüme. Zwar singt Lully, die arme Fee und Untertanin der „bösen Hexe“ immer noch ihr „Ich bin so allein, / überall nur Schweine“, aber das ästhetische Konzept hat sich durchaus geändert. Jetzt ist man zwar nicht von Kopf bis Fuß auf Rosa eingestellt, aber das Schweine- und Schweinchen Thema steht doch im optischen Mittelpunkt der hübschen, kleinen Chose. Damals spielte das Werk auf einem Schulhof, nun ist man wirklich in einer Art Feenreich gelandet – und Lully, die so heißt wie der Komponist einer bedeutenden anderen Armide-Oper vor Gluck, ist keine „Zicke“, sondern eine hübsche junge Dame, die unter dem Terror ihrer divenhaften Chefin zu leiden hat. Die zaubert sich einen jungen Mann auf die Bühne, der sinnigerweise Christoph heißt, seine Freundin, die ihn dann zusammen mit Lully und Willibald (Willibald!), dem rollenden und hupentrötenden Wurzelzwerg, aus der Verzauberung löst, trägt den Namen Marianne – so wie einst Glucks Frau. Namen für Kenner, das ist okay. Die beiden Frauen leben immer noch mit dem Zwerg zusammen auf einer Insel, die ansonsten ausschließlich von Schweinen bewohnt wird – verzauberten Schweinen, versteht sich, denn in Armide steckt bekanntlich die Circe. „Du kannst doch nur das Eine, du zauberst immer Schweine“, singt Lully,  „Schweine hier, Schweine da“.

Christoph trägt auch 2025 noch eine quasi rosarote Brille, die ihm genommen werden muss, damit er die und das Wahre erkennt. „Liebe ist die wahre Magie“, singt man, das ist ja auch richtig, auch wenn der Begriff zu tausend Definitionen Anlass gäbe. Damit es aber zum guten Ende kommen, die in Christoph verwandelte Lully zurückverwandelt und Christoph wieder sehend gemacht werden kann, bedarf es der gemeinsamen Anstrengung Aller, auch der Kinder. Sie haben ein Entzauberungslied zu singen, denn Willibald Wurzelzwerg kann kraft bösen Zaubers nur noch das Gegenteil dessen sagen, was er denkt. Und also singen und gestikulieren die Kleinen wieder das „Ich-sage-immer-das-Gegenteil-von-dem-was-ich-denke-Entzauberungslied“: aus vollen Kehlen.

© Pedro Malinowski

Das Ganze wäre nun nicht mehr als eine, pardon, dümmlich-nette Schweinerei mit pädagogischem Vordersinn, würden die Damen und Herren nicht so entzückend singen. Caroline Ottocan ist als Armide eine rothaarige Powerfrau, die die kontrollierte Kraft nicht allein auf dem Kopf, auch in der Kehle trägt. Dass die zumal die Jungs im Publikum Angst vor ihr haben, ist unfair, denn wer so stimmschön singt, kann keine schlechte Zauberin sein, auch wenn sie finalmente mit herrlich hineinzischenden Schussnebeln in die Hölle der Hinterbühne geschleudert wird. Bössein lohnt sich nicht, man muss nur zusammenhalten. Adorno hätte gesagt: In diesen Momenten bewahrt die Oper ihr utopisches Potential. Laura Hilden, gerade noch eine bemerkenswerte Kammerfrau in Macbeth, spielt die gute Lully: mit dem Herz auf dem sog. rechten Fleck und einem gleichfalls höchst ansprechenden, locker geführten und ausklingenden Sopran. Kabelo Lebyana hat sicht- und hörbar Spaß an seinem baritonalen Willibald, Clarissa Maria Undritz macht als Marianne das Terzett der drei Damen schlichtweg vollkommen, und Florian Wugk ist der tenorale Hahn im Korb der Schweinezüchterin Armide. Kürzlich waren Ottocan, Undritz und Wugk in der Zauberflöte zu sehen, in „kleinen“ (wie Papagena) und großen kleinen Rollen (eine Dame, Monostatos), nun sind sie prima inter pares auf der kleinen Bühne.

Der „kleinen“ Bühne? Die Kleinen, also die, für die sie gemacht war, mochten sie auch in der Neubearbeitung – worauf die „energetische Interaktion“ an vielen Stellen lautstark schließen ließ.

Frank Piontek, 11. März 2025


Armide oder Schwein gehabt
Nach C.W. Gluck

Staatstheater Nürnberg

Besuchte Vorstellung: 11. März 2025
Premiere am 17. November 2024

Inszenierung: Chiara Cosima Caforio
Musikalische Leitung: Otto Itgenshorst
Mitglieder der Staatsphilharmonie Nürnberg

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