Zürich: „Ein Maskenball“, Giuseppe Verdi

È un Ballo in Maschera – Splendidissimo. Mit diesen Worten überbringt der Page Oscar im dritten Aufzug dem sich mitten in der Ehekrise befundenen Paar Renato und Amelia die Einladung zum Maskenball des Gouverneurs (und – zumindest in der konkreten Handlung, weniger in Gedanken – keuschen Liebhabers Amelias) Riccardo. Damit verspricht der quirlige Page nicht zu viel: Splendidissimo ist nicht nur der finale Maskenball in der berauschenden, an die Pariser Bälle zur Zeit des dritten Napoleon angelehnten Choreografie von Emma Woods geraten, sondern die gesamte Neuproduktion von Verdis meisterhafter Oper in der Regie von Adele Thomas am Opernhaus Zürich ist von überragender Großartigkeit – und Stimmigkeit!

© Herwig Prammer

Das Inszenierungsteam der Regisseurin Adele Thomas (die wunderbar träfe Ausstattung entwarf Hannah ClarkFranck Evin steuerte das atmosphärisch passende Lichtdesign bei) verortet die Handlung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Riccardo ist gerade zum Gouverneur von Boston gewählt worden, die Nutzung der Elektrizität steckt in den Kinderschuhen, oftmals flackern die Lampen (wie ein Art running gag, wenn Unheil droht), einmal werden auch die filmischen Effekte des Zoetrops eingesetzt. Adele Thomas lehnt also die Handlung an die Fassung der römischen Uraufführung des Werks an, in welcher die Oper nicht einen Königsmord auf dem Bühnen zeigen durfte und Verdi und sein Librettist Antonio Somma die Geschichte nach Neuengland verlegten. (Scribe hatte ja in seinem ursprünglich für Rossini vorgesehenen Libretto, das vor Verdi bereits von Auber vertont worden war, den Mord am schwedischen König Gustav III. zum Thema gemacht).

Hannah Clark hat für diese Zürcher Produktion nun einen runden Pavillon auf die Drehbühne gestellt, der als Operationssaal für die Autopsie des ermordeten Riccardo während der Ouvertüre dient, als Senatssaal für das erste Bild des ersten Aufzugs, als mit grünen Samtvorhängen dekoriertes Zimmer des Okkultismus im zweiten Bild von Akt I. Im zweiten Akt dann bildet die geschlossene Rückwand des Pavillons die Szenerie zur verruchten Gegend am Galgenberg, eine einsame Wandlampe imitiert den Mond, leichte Mädchen, ein Freier und eine Randständige illustrieren die Atmosphäre des leicht Unheimlichen des Bildes. Im ersten Bild des dritten Aktes sind wir im wunderbar stimmig tapezierten und möblierten Salon im Hause Renatos, danach singt Riccardo seine große Szene und Arie Ma se m’è forza perderti vor dem geschlossenen, von der Rampe aus von unten beleuchtetem rotem Vorhang (ganz im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts).

© Herwig Prammer

Zum Schluss dann dreht sich der nun wie ein Karussell beleuchtete Pavillon zum fatalen Geschehen während des Maskenballs. Die zehn Tänzer (Jessica Falceri, Sara Peña, Sara Pennella, Noa Joanna Ryff, Chiara Viscido, Cristian Alex Assis, Pietro Cono Genova, Davide Pillera, Daniele Romano, Roberto Tallarigo) in elegantem Frack und dezent pastellfarbenen Cul-de-Paris-Roben begeistern mit akrobatischen Can-Can-Einlagen.

Der Can-Can feiert bereits im ersten Bild Urständ: Wenn die politische Entourage Riccardos beschließt, der Wahrsagerin Ulrica einen Besuch abzustatten und in ein grotesk-komisches Finale einstimmt. Das ist ungeheuer genau passend zu der Musik Verdis umgesetzt, die immer wieder in hüpfende, punktierte Komik an der Grenze zur Groteske umschlägt. Mit stupender Genauigkeit der Personenführung setzt die Regisseurin Adele Thomas auch die Szene bei der Wahrsagerin um: Die zur Hysterie neigenden Damen der damaligen Aristokratie scharen sich rund um den Tisch mit der grünen Decke und der Kristallkugel darauf, das mokierende Gebaren der als Seeleute verkleideten Politiker mit Riccardo, das alles ist von bestechender Lebendigkeit erfüllt.

Um diese Lebendigkeit zu erreichen, braucht es natürlich Sängerdarsteller, welche nicht nur ihre stimmlichen Schönheiten präsentieren wollen, sondern sich auch auf das zum Teil turbulente Spiel einzulassen vermögen. Der Riccardo von Charles Castronovo macht das mit herausragender Glaubwürdigkeit: Ein blendend aussehender, aufstrebender Politiker (Adele Thomas erwähnt im Programmheft die Kennedys) mit durchaus lebenslustigen Seiten. Sein angenehm dem Ohr schmeichelnd und warm timbrierter, ganz leicht eingedunkelter Tenor meistert die Partie mit Bravour. Der Sänger glänzt mit jugendlich-erfrischendem, burschikosem Spiel (ganz herrlich in der Szene bei Ulrica) und eindringlicher Mimik. Erika Grimaldi gelingt ein fabelhaftes Rollendebüt als Amelia: Ihr leuchtender Spinto-Sopran setzt Glanzlichter in der Höhe (manchmal – wohl sicherheitshalber – etwas zu laut) und berührt mit bewegend geäußerten Zweifeln, emotionaler Verwirrung und – vor allem in der Arie im dritten Akt Morròma prima in grazia – mit bewegender Eindringlichkeit. Das große Liebesduett im zweiten Akt zwischen Charles Castronovo und Erika Grimaldi schraubt sich in begeisternder, Gänsehaut erregender Emphase hoch. 

© Herwig Prammer

George Petean zeigt in der Rolle des Renato erneut, dass er derzeit zu den führenden Baritonen im italienischen Repertoire des 19. Jahrhunderts zählt. Seine Stimme strömt mit warmer, aber zu eindringlichen dramatischen Akzenten fähiger Tongebung, von seiner den Gouverneur lobpreisenden Auftrittsarie im ersten Akt Alla vita che t’arride bis zu seiner bitteren Enttäuschung über ebendiesen Freund bewegend Ausdruck verleihenden Arie Eri tu che macchiavi quell’anima. Grandios! Katharina Konradi gestaltet die Hosenrolle des quirlig-naiven Oscars mit erfrischender Agilität, glockenreinem Ziergesang, Spritzigkeit und lebhafter, szenischer Präsenz. Wunderbar! Agnieszka Rehlis, die in Adele Thomas‘ Inszenierung vom Trovatore bereits, als Azucena begeistert hatte, gelingt mit ihrer Interpretation der Ulrica mit ihren düsteren Prophezeiungen und den Anrufungen der dunklen Mächte ein unter die Haut gehendes musikalisches Erleben der Faszination des Okkulten.

Die beiden Verschwörer Samuel und Tom werden von Brent Michael Smith und Stanislav Vorobyov mit augenzwinkernden, parodistischen Akzenten versehen – genau so, wie Verdi sie musikalisch gezeichnet hat. Steffan Lloyd Owen singt einen auch stimmlich muskulösen Silvano im Ulrica-Bild und Martin Zysset gestaltet eine gelungene Karikatur des rassistischen, konservativen Richters – von deren Sorte es auch heute noch einige gibt. 

Gianandrea Noseda entlockt in seinem Dirigat der wunderbar spritzig aufspielenden Philharmonia Zürich genau diesen für den Maskenball so typischen Mischklang aus karikierender Groteske und empathischer Opern-Romantik. Da wird das fugiert-komische Verschwörer Motiv genauso sorgfältig herausgearbeitet wie die Emphase in den Arien und dem großen Duett, und der so herrlich aufblühende Kulminationspunkt im Finale Cor si grande e generoso, mit der über dem stimmstarken Chor der Oper Zürich (Einstudierung: Janko Kastelic) und den Männerstimmen aufblühenden Kantilene der Amelia gerät zum Weinen schön.

© Herwig Prammer

Auch in diesem Schlussbild zeigt sich, wie genau Adele Thomas mit den Protagonisten gearbeitet hat: Der Blick, den Amelia ihrem mörderischen Gemahl Renato zuwirft, nachdem in der Hand des sterbenden Gouverneurs das Beweisstück entdeckt worden ist, dass die Liebe zwischen ihr und Riccardo keusch war und auch so bleiben sollte, wird für immer im Gedächtnis haften bleiben. Die Sorgfalt, mit der Adele Thomas den Text interpretiert hat, ist wirklich bestechend.

Ich bin wahrlich kein Freund von bebilderten Ouvertüren, aber wie Adele Thomas die Autopsie des Ermordeten so punktgenau auf die Musik umgesetzt hat, wie der Eröffnungschor mit den Worten Posa in pace, a‘ bei sogni ristora quasi ein Requiem intoniert (obwohl es ja Morgen ist und alle auf den Grafen warten) und wie dann mit Oscars S’avanza il Conte! der Ermordete sich vom OP-Tisch erhebt und die eigentliche Opernhandlung beginnt, das hat schon was! Wahrlich meisterhaft, wie makabere Komik, Satire und tiefe Gefühle unter einen Hut gebracht werden. Man kann sich gut vorstellen, dass Verdi und Somma nach dem ganzen Theater mit der neapolitanischen und der römischen Zensur zu diesem großen Abend des Opernhauses Zürich wohl im Himmel verschmitzt schmunzeln! 

Kaspar Sannemann, 10. Dezember 2024


Ein Maskenball
Giuseppe Verdi

Opernhaus Zürich

8. Dezember 2024

Regie: Adele Thomas
Musikalische Leitung: Gianandrea Noseda
Philharmonia Zürich