Wien: „Carmen“

Wiener Staatsoper, 9.6.2021

Nein, Regisseur Calixto Bieto zeichnete keine romantische Version dieser Oper – aber das wusste man ja schon vorher. Bieto, der „Gottseibeiuns“ vieler Anhänger der konservativen Inszenierungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigte ein Abbild einer Wirklichkeit, die vielleicht viele Opernbesucher in dieser Brutalität gar nicht kennen. Das muss man so nicht zeigen, aber man kann es auf jeden Fall!

Diese Produktion vor Ort zu sehen hinterließ einen ganz anderen Eindruck als der Live-Stream. Die szenische Einstudierung von Bieto und Joan Anton Rechi ist sehr komplex und man muss „diese“ Carmen wahrscheinlich öfter sehen, um die verschiedenen Geschichten, die oft im Hintergrund oder an der Seite ablaufen, zu erfassen. Über das Bühnenbild (nun ja, mehr oder minder ein leerer Raum) von Alfons Flores haben schon andere Kollegen berichtet, deshalb erspare ich mir das.

Die Handlung wurde in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts verlegt, ebenso spielt sie nicht in Sevilla, sondern in einer spanischen Enklave an der Mittelmeerküste.

Es findet sich kaum eine heldenhafte oder gänzlich positive Person in diesem Stück – mit einer Ausnahme, einem jungen Mädchen, das wahrscheinlich die Tochter der Mercédes sein sollte. Sie (dargestellt von Giulia Mandelli) muss in dem Milieu von Schmugglern, Drogendealern, Huren und gewalttätigen Soldaten aufwachsen. Sie möchte lieber mit ihrer Puppe spielen, allerdings wird sie gezwungen sich aufreizend zu kleiden, Pumps anzuziehen, damit im 3.Akt die Wachen abgelenkt werden. Ich fand dies extrem erschütternd, da mich das an etwas erinnerte, das ich vor einigen Jahren erlebt habe. Ich war als Schöffe bei einem Prozess eingeteilt, wo es um Kindesmissbrauch geht. Die Großmutter kleidete ihre 13-jährige Enkelin in Dessous, machte Photos und schickte sie weiter. Die Mutter nahm die andere Tochter zu ihren „Kunden“ mit – ich glaube, ich muss nicht mehr ins Detail gehen. Es taten sich da menschliche Abgründe auf – und genau mit diesen konfrontiert Bieto das Publikum…

Die Inszenierung ist sehr veristisch und ich finde auch, dass die Massenszenen sehr gut realisiert sind – besonders der Beginn des 4.Akts ist besonders gelungen, es gab auch heute dafür Szenenapplaus. Diese Art von Verismo findet sich auch im Dirigat von Alexander Soddy wieder, der sehr zügige Tempo anschlug und nie den Spannungsbogen verlor.

Dadurch, das an diesem Abend die Interpretation der Musik sich der Regie anpasste, litt ein wenig die Arie der Micaela im 3.Akt. Vera-Lotte Boecker gelang es nicht (oder fast besser gesagt „konnte es nicht gelingen“) so lyrisch zu klingen wie man es von anderen Interpretinnen gewohnt ist. Allerdings ist diese Micaela nicht als „Unschuld vom Lande“ gezeichnet, sondern auch sie hat negative Seiten, sie bedrängt Don Jose und bedroht auch die Carmen. Boecker wurde stürmisch bejubelt – was mich ein wenig verwunderte.

Dass die Inszenierung repertoiretauglich ist, bewies alleine schon die Tatsache, dass drei der Hauptrollen mit Künstlern besetzt waren, die an der Erarbeitung der Premiere nicht beteiligt waren. Vor allem ist naturgemäß hier die Hauptdarstellerin, Elena Maximova, zu erwähnen. Sie hat schon viele Erfolge an der Staatsoper gefeiert und fügte an diesem Abend einen weiteren hinzu. Im Vergleich zur Sängerin der Premiere fehlt ihr ein wenig die Tiefe, aber das glich sie mit ihrer Spielfreude mehr als aus. Dass sie auch komplett andere körperliche Voraussetzungen mitbringt, die wahrscheinlich eher zur Personenregie passen, kommt auch noch hinzu. Man erlebte eine selbstbewusste junge Frau, die unter Machos lebt und von ihnen auch immer wieder misshandelt wird. Aber sie bleibt den Männern nichts schuldigt und schlägt sie mit den Waffen der Frau – schlussendlich wird sie aber doch das Opfer eines ihrer vielen Liebhaber.

Don Jose wird in vielen Inszenierungen mehr als Opfer porträtiert, weniger als Täter. Bieto zeichnet ihn anders – von Beginn an erkennt man den brutalen Kern dieses Mannes, der sich nur am Anfang ein wenig zurücknehmen kann. Je länger der Abend dauert, desto mehr zeigt er sein wahres Gesicht. Dmytro Popov zeigte eine ganz ausgezeichnete Leistung – und ich ziehe seine Interpretation der von Piotr Beczala vor. Noch einmal – die Tatsache, dass er niemals romantisch klingt, passt zur Produktion. Er hat das Volumen, das für die Staatsoper benötigt wird, und hat überhaupt keine Höhenprobleme. Er war ein würdiger Gegenspieler von Carmen und Escamillo.

Ad Escamillo – ich wiederhole mich immer wieder, dass es meiner Meinung seit Samuel Ramey keinen Sänger gegeben hat, der diese Rolle wirklich ausgefüllt hat. Aber – tempi passati – und Staatsoperndebütant Gabor Bretz machte seine Sache sehr, sehr ordentlich!

Ileana Tonca (Frasquita) und Szilvia Vörös (Mercedes) blieben unauffällig, Clemens Unterreiner als Dancaire zeigte auch an diesem Abend, dass es keine „kleinen“ Rollen gibt, Carlos Osuna (Remendado) ergänzte das Schmugglerquartett.

Peter Kellner gefiel mir als Zuniga sehr gut, auch Martin Häßler machte als Moralès eine gute Figur. Erwähnenswert finde ich auch die Aufwertung der Figur des Lillas Pastia (Jason Dunman), dessen Rolle ich als „Master of Ceremonies“ wahrnahm und für einige – auch überraschende – Momente sorgte.

Allen Chören der Staatsoper und den Kindern der Opernschule sei ein Pauschallob ausgesprochen.

Noch ein Wort zu Alexander Soddy – ich liebe seine Arbeit (seine Elektra im Vorjahr war für mich eine der beeindruckendsten Vorstellungen seit langem!) und er beginnt langsam, zu einen meiner Lieblingsdirigenten zu werden.

Das Publikum war begeistert. Und mit was? Mit recht…

Kurt Vlach, 10.6.2021