Wien: „Meine Seele ist erschüttert“

BEETHOVEN-PROJEKT II

Die letzte Spielzeit von Roland Geyer als Direktor des Theaters an der Wien wurde als „Intrada“ mit einem Gastspiel des Hamburger Balletts John Neumeier eingeläutet. Dieser teilte sein nachträglich als Feier zum 250. Geburtstag Beethovens entworfene Ballett in zwei Teile: „Hausmusik“ und „Tanz!“. In einem kurzen pantomimischen Vorspiel setzt sich Beethoven (Aleix Martínez) an einen Klavierflügel und hämmert mit einem Finger auf die geschlossene Abdeckung der Klaviatur, legt sein Ohr auf diese und versucht vergeblich, ihr einen Ton zu entlocken.

Der Verlust seines Gehörs sollte sich im Verlauf dieses Balletts noch bis zur völligen Taubheit tänzerisch steigern. Nach dieser „Pantomime“ darf sich die Pianistin Hanni Lang an den Flügel setzen, begleitet vom Geiger Anton Barakhovsky. In dieser ausweglosen Situation stehen ihm aber zwei Figuren zur Seite: Zunächst die inspirierende Muse (Hélène Bouchet), danach sein „Alter Ego“ (Jacopo Bellussi), in das so manche Züge von Beethovens Sekretär Anton Felix Schindler (1795-1864) eingeflossen sein mögen. Der Katalane Aleix Martínez hatte schon 2018 im „Beethoven-Projekt“ den Komponisten verkörpert. Der erste Teil des Abends wiederum bestand aus drei Teilen und wurde mit der Sonate für Klavier und Violine Nr. 7 in c-moll, op. 30 Nr. 2, eingeleitet. Daran anschließend folgte der erste Satz des Oratoriums „Christus am Ölberg“, op. 85, worin es dem begnadeten Choreographen und Regisseur John Neumeier wieder einmal gelang, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, bei welchem der weltberühmte Wagnertenor Klaus Florian Vogt das Recitativo „Jehova, du, mein Vater“ und die Arie „Meine Seele ist erschüttert“ von Christus formvollendet interpretierte.

In dieser Sequenz spiegeln sich die Angst Christus vor der Passion und die Angst Beethovens vor der Taubheit. Auf der Bühne verändert sich das Leben des Komponisten radikal: er zieht sich auf Grund seiner zunehmenden Schwerhörigkeit zurück und wird von der illustren Gesellschaft geschnitten. In seiner Verzweiflung erklimmt er ein Podest, auf dem sich ein Konzertflügel befindet und sein Alter Ego ihn erwartet. Musikalisch folgen nun der 2. und 3. Satz der Klaviersonate Nr. 21 in C-Dur, op. 53, der sogenannten „Waldsteinsonate“, die die Pianistin bravourös auswendig vortrug, während im 2. Satz ein inniges Pas de deux zwischen Muse und Beethoven zu erleben war, finden die beiden im 3. Satz Unterstützung durch die gesamte Companie. Der mit „Tanz!“ betitelte zweite Teil des Abends wird von den vier Sätzen von Beethovens Sinfonie Nr. 7 in A-Dur, op. 92, ausgefüllt. Und hier kann das Wiener KammerOrchester unter seinem Dirigenten Constantin Trinks, wieviel Drive in der Siebenten doch steckt. Nicht umsonst unterstrich mein Musiklehrer am Gymnasium, Herwig Knaus, dass die ungeraden Sinfonien von Beethoven eigentlich die spannenderen seien, aber das liegt natürlich allein im Ohr des Zuhörenden.

Der Funke, der von den Tanzenden ausgehenden übersprühenden Lust an der Bewegung schien auch auf einen Teil des Publikums übergegangen zu sein, dass sich dazu veranlasst sah, mit den Füßen – mehr oder weniger – rhythmisch mitzustampfen! Optischer Ausdruck dieser Joi de vivre war der rasche Wechsel der Kostümfarben der Tanzenden (Kostüme: Albert Kriemler vom Schweizer Modehaus Akris), während sich das karge Bühnenbild von Heinrich Tröger im Gegensatz zur Farbenpracht der Kostüme lediglich auf zwei Konzertflügel und einige Plastiksessel beschränkte. In diesem Ambiente aber bleibt der personifizierte Beethoven ein Fremdling, der die ausgelassene Fröhlichkeit bei aller Verschlossenheit und Zurückhaltung dennoch genießt und schließlich auf den ausgestreckten Armen seines sich um die eigene Achse drehenden Alter Egos, in die Ewigkeit zu schweben scheint…

Das Publikum des gut gefüllten Theaters an der Wien brach am Ende der Vorstellung in Jubelovationen aus, der sich zu einem regelrechten Beifallssturm steigerte, als John Neumeier höchstpersönlich auf der Bühne erschien und sich verbeugte. Ein beglückter Rezensent konnte sich von den künstlerischen Leistungen höchst erfreut auf den Heimweg begeben.

Harald Lacina, 29.8.

Fotocredits: Kiran West