Stuttgart: „Don Carlos“, Giuseppe Verdi

Zu einer beachtlichen Angelegenheit geriet die Aufführung von Verdis Don Carlos an der Staatsoper Stuttgart. Verdi komponierte diese Oper für Paris in Form einer aus fünf Akten bestehenden Grande Opera in französischer Sprache. In späteren Zeiten überarbeitete er das Werk mehrmals. Sieben Fassungen des Stückes existieren. Die Stuttgarter Staatsoper fügte nun eine achte hinzu. Gegeben wurde die fünfaktige Fassung im französischen Idiom. Dabei konnte man einige Szenen erleben, die sonst immer gekürzt werden. So musste Verdi zum Beispiel nach der überlangen Generalprobe der 1867 erfolgten Uraufführung das Eingangsbild streichen. Diese dramaturgisch äußerst wichtige Szene, in der Elisabeth im Wald von Fontainebleau dem leidenden Volk begegnet und es großzügig beschenkt, ist in Stuttgart dankenswerterweise zu sehen. Der erste Akt orientiert sich insgesamt an der erwähnten Fassung der Generalprobe. Im Übrigen folgt die Stuttgarter Produktion der letzten Revision des Werkes in Modena aus dem Jahre 1886. Daraus resultierte ein sehr umfangreicher Don Carlos von ca. viereinhalb Stunden ohne Pausen.

© Martin Sigmund / Staatsoper Stuttgart

Bemerkenswert ist, dass in Stuttgart auch die Ballettmusik des dritten Aktes gegeben wurde – indes nicht ohne eine einschneidende Änderung: Der Schluss des Balletts wurde durch Gerhard E. Winklers im Jahre 2015 komponierte Pussy -(r) – Polka, die das Ende von Verdis Don – Carlos – Ballettmusik zitiert, ersetzt. Diese Polka bezieht sich auf die russische Punkrock-Band Pussy Riot, die Russland und seiner Kirche mit heftiger Kritik begegnete und aus diesem Grund vor einigen Jahren auch in Haft genommen wurde. Hier sind Eisenketten und Polizeipfeifen zu hören. Auf diese Art und Weise wird geschickt ein politischer Kontext hergestellt, der durchaus logisch erscheint. Angesichts des Charakters des eingefügten Werkes Winklers als Fremdkörper hätte man diese Einlage besser weggelassen. Insgesamt haben wir es hier mit einem gediegenen Klangteppich zu tun, der von Dirigent Valerio Galli und dem gut disponierten Staatsorchester Stuttgart trefflich ausgedeutet wird. Gallis Auffassung von Verdis Werk ist eine lockere, leichtere und wird obendrein von zahlreichen kammermusikalischen Zwischentönen geprägt. Selbst bei den lauten, dramatischen Stellen des Autodafés hielt er sich etwas zurück. Den Sängern war er ein umsichtiger Begleiter.

Mit ihrer Inszenierung ist Lotte de Beer ein großer Wurf gelungen. Das Bühnenbild und die Kostüme besorgte Christof Hetzer. Allem pompösem Äußeren erteilt das Regieteam eine deutliche Absage und setzt vielmehr stark auf Reduktion. Die praktisch leere Bühne wird fast durchweg dunkel ausgeleuchtet. Enorme Düsternis, die nichts Gutes verheißt, hüllt die Bühne ein. Das Bühnenbild wird von einer schwarzen Mauer dominiert, die mit Hilfe der Drehbühne häufig ins Rotieren kommt und dergestalt die verschiedenen Handlungsorte herausstellt. Letztere werden in dieser Produktion indes lediglich angedeutet. Im Inneren der Drehbühne sind nur einige wenige Versatzstücke zu sehen, so beispielsweise eine Wolke, eine Treppe, ein Bett, der Schreibtisch Philipps II, ein Kirschbaum sowie eine Galerie für den Chor im Autodafé. Der Ansatzpunkt Lotte de Beers besteht darin, die Handlung von unserer konkreten Gegenwart zu trennen und zu emanzipieren (vgl. Programmbuch S. 19). Aus dieser Intention heraus zeigt sie ein totalitär regiertes Spanien, wie es in zwanzig oder dreißig Jahren vielleicht ausschaut. Hierbei handelt es sich gleichsam um ein Phantasie – Spanien einer nicht allzu fernen Zukunft. Gewaltsam breitet sich die Warnung der Regisseurin aus, derartige fragwürdige Zustände, wie sie z. Z. Philipps II in Spanien Gang und Gäbe waren, niemals wieder aufkommen zu lassen. Totalitäre Machtstrukturen und religiösen Fundamentalismus, wie sie der Inquisition eigen sind, stößt sie mit dem lauten Brustton der Überzeugung ins Abseits.

© Martin Sigmund / Staatsoper Stuttgart

Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie die Inquisition besonders scharf unter die Lupe nimmt. Den weiß gekleideten Großinquisitor stellt sie nicht als den herkömmlichen blinden neunzigjährigen Greis dar, sondern als nicht allzu betagten Mann, der auch das Augenlicht noch nicht verloren hat. Ihn vermag nichts mehr zu erschüttern. Seelenruhig verspeist er auf der linken Seite der Bühne sitzend einen Apfel, während das Autodafé seinen Anfang nimmt. Sein Auftritt bereits in diesem Bild belegt, dass Frau de Beer trefflich mit Tschechow‘ schen Elementen umzugehen versteht. Anschließend umarmt er die Delinquentin inbrünstig. Philipp II hatte er bereits vorher zur Begrüßung lange auf den Mund geküsst. Dieser Mensch macht wohl vor Niemandem Halt. Diese Szene wirkt ausgesprochen bizarr. Den Höhepunkt der Aufführung bildet die große Auseinandersetzung zwischen dem König, der sich angesichts der Enttäuschung über seine Frau ein Betthäschen holte, und dem Kirchenmann. Erbarmungslos zerstört die inhumane Inquisition sämtliche Handlungsträger.

Diese versteht Frau de Beer hervorragend zu deuten. Die Titelfigur stellt sie als traumatisierten Schwächling dar, der unfähig ist, sich durchzusetzen und es im Leben darum sehr schwer hat. Bereits die Liebesszene des ersten Aktes, in deren Verlauf sich Elisabeth bis auf die Unterwäsche entkleidet – Don Carlos behält erheblich mehr an -, bringt die Regisseurin mit enormer Spannung auf die Bühne. Der Marquis von Posa wird von der Regie als Widergänger von Che Guevera interpretiert. Im Laufe des Geschehens mutiert er vom überzeugten Revolutionär zum Parteigänger Philipps II und erscheint so als Verräter an Don Carlos. Der König wird als ein faschistischer Militarist im weißen Gewand und mit dunklen Handschuhen vorgeführt. Mit einer rituellen Waschung versucht er die Verantwortung für die Ketzerverbrennung von sich abzustreifen. Dieses Pilatus-Prinzip stellt einen ausgesprochen guten Regieeinfall dar! Charakterlich kräftig zeigt sich die Prinzessin Eboli, die alles versucht, Carlos für sich zu gewinnen, was ihr aber nicht gelingt. Mit der Verbannung ins Kloster konfrontiert, schneidet sich die jetzt nur noch im Unterkleid Dastehende kurzerhand die Haare ab.

© Martin Sigmund / Staatsoper Stuttgart

Besondere Bedeutung misst die Regisseurin den Kindern zu, die zu Beginn des dritten Aktes Carlos umgarnen. Das Autodafé gleichsam vorwegnehmend setzen sie eine Puppe in Brand. Mit einer Tüte töten sie zum Schluss den nun blutüberströmten Mönch, hinter dem sich Philipps Vater Karl V verbirgt. Lotte de Beer zeichnet diese Kinderschar als in höchstem Maße fragwürdig, schlimm und gewalttätig. Hierbei fühlt man sich stark an Michael Hanekes Film Das weiße Band erinnert. Diese Kinder wissen es indes nicht besser. Sie imitieren nur das, was die Erwachsenen sie gelehrt haben. Und das ist eben nackte Gewalt. Und immer wieder nur Gewalt. Es handelt sich um eine höchst trostlose Zukunftsperspektive, die Frau de Beer hier auf sehr eindringliche Weise in den Raum stellt. Wenn man unfähig ist, seine Kinder zum Besseren zu erziehen, ist es ebenso unmöglich, dass sich die Verhältnisse zum Guten wenden. Was der Mensch sät, das erntet er auch. Wenn er für seine Kinder ein maliziöses Vorbild darstellt, werden auch diese böse. Damit sind sie aber unfähig, ihren Nachkommen zu zeigen, was dieses „Bessere“ sein soll (Programmbuch S. 25). Hier handelt es sich augenscheinlich um einen klaren Fall von Erbsünde. Das alles wirkte ausgesprochen überzeugend und wurde von der Regisseurin mit Hilfe einer stringenten, flüssigen Personenregie auch spannend auf die Bühne gebracht. Dazu hatte ebenfalls Tizian Olivieri, der für die szenische Leitung der Wiederaufnahme verantwortlich war, einen großen Anteil.

© Martin Sigmund / Staatsoper Stuttgart

Auf hohem Niveau bewegten sich die sängerischen Leistungen. David Junghoon Kim gab mit trefflich fokussiertem, virilem und höhensicherem Tenor einen ansprechenden Don Carlos. Eine hervorragende Leistung erbrachte Olga Busuioc, die sich mit einem ungemein wohlklingenden, gut fokussierten und farbenreichen Sopran in die ersten Vertreterinnen der Partie der Elisabeth problemlos einzureihen wusste. Fulminante Dramatik standen ihr genauso zur Verfügung wie einfühlsame leise und lyrische Passagen. Ihre Stimme klang durchweg warm, innig und gefühlvoll. Bravo! Eine phantastische Leistung erbrachte auch Diana Haller als Eboli. Leichte Geschmeidigkeit stand ihrem klangvollen Mezzosopran in gleichem Maße zur Verfügung wie ausladende Dramatik. Einen vorbildlich fundierten Bariton brachte Johannes Kammler in die Partie des Marquis von Posa ein. Mit großer Eleganz ließ Adam Palka als Philipp II seinen ebenmäßigen, klangvollen und eleganten Bass dahinfließen. Übertoffen wurde er von Gianluca Buratto, der den Großinquisitor mit einem ungemein wohlklingenden, bestens italienisch fundierten und sehr sonoren Bass ausstattete. In nichts nach stand ihm der Mönch (Karl V) des jungen Michael Nagl, der sich ebenfalls durch einen herrlich italienisch geschulten, substanzreichen Bass auszeichnete. In diesem hervorragenden Bassisten wächst wohl ein ausgezeichneter Philipp II nach. Mit tadellosen Stimmen gefielen Natasha Te Rupe Wilson (Thibault), Alma Ruoqi Sun (Stimme vom Himmel) und Kyung Won Yu (Holzfäller). Lediglich über dünnes, maskiges Tenor-Material verfügte Alberto Robert in der Doppelrolle von Graf Lerma und königlicher Herold. Eine vorbildliche Leistung erbrachte der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart und Extrachor.

Ludwig Steinbach, 1. April 2024


Don Carlos
Giuseppe Verdi

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 27 Oktober 2019
Besuchte Aufführung: 29. März 2024

Inszenierung: Lotte de Beer
Musikalische Leitung: Valerio Galli
Staatsorchester Stuttgart