Ulm: „Parsifal“, Richard Wagner

Soll man es glauben, dass Wagners Parsifal bisher noch nie am Theater Ulm zu sehen war? Nun ja, das ist eine Tatsache. Nicht einmal Herbert von Karajan hat das Werk während seiner Ulmer Zeit auf den Spielplan gesetzt. Jetzt war Wagners Weltabschiedswerk zum ersten Mal in Ulm zu sehen. 142 Jahre nach der Bayreuther Uraufführung ist den Ulmern mit einer insgesamt phantastischen Neuproduktion ein geradezu sensationeller Coup gelungen, der sich tief in das Gedächtnis einprägte. Und da behaupte noch mal jemand, dass kleine Theater keinen Wagner spielen können. Das Ulmer Theater hat an diesem fast ausverkauften Abend glanzvoll bewiesen, dass es das sogar gut kann. Es hat beherzt alles auf eine Karte gesetzt und haushoch gewonnen.

©Theater Ulm

Intendant und Regisseur Kai Metzger ist in Zusammenarbeit mit seinem Ausstatter Heiko Mönnich eine geradezu funkensprühende, spannende, gut durchdachte und von einer stringenten Personenregie geprägte Inszenierung gelungen, die einiges Neues enthielt. Metzger hat ein gutes Händchen dafür, wie man eine Oper abwechslungsreich und aufregend auf die Bühne bringt. Daran haben auch die von ihm häufig ins Spiel gebrachten Tschechow‘ schen Elemente einen großen Anteil. Langweilig wurde es wirklich nie. Leerläufe stellten sich an keiner Stelle ein. Mit dieser grandiosen Regiearbeit hat er rein szenisch sogar die derzeit in München laufende, sterbenslangweilige Produktion des Werkes weit in den Schatten gestellt. Kein Wunder, dass der Applaus des begeisterten Publikums am Ende überaus herzlich war.

Das Regieteam hat Wagners Bühnenweihfestspiel gekonnt in unsere Zeit verlegt. Die Handlung spielt sich in einem karg ausgestatteten Gedankenraum ab, der von einem riesigen Kreuz mit Jesus daran dominiert wird. Die Spielfläche steigt von vorne nach hinten schräg an. Darüber schwebt eine ebenfalls schiefe Decke. Links ist eine Wand mit nach außen gerichteten Öffnungen, durch die Auf- und Abgänge erfolgen, zu sehen. Vorne befindet sich eine breite Bodenluke, aus der Kundry erscheint. In diesem Ambiente haben sich die Gralsritter eingerichtet, die Metzger als kämpferischen, modern gekleideten Männerbund deutet, der nach der Gralsfeier mit Schwertern eine Waffenweihe vornimmt. Sie sind fest in ihrem Glauben verwurzelt, und es ist gefährlich, an diesem zu rütteln. Das tat augenscheinlich bereits ganz zu Beginn ein ganz Wagemutiger. Beherzt hat er das INRI-Schild durch Nietzsches Postulat Gott ist tot ersetzt. Das haben sich die Mitglieder des Gralsordens offenbar nicht bieten lassen. Prompt beförderten sie ihn ins Jenseits. Zu Beginn liegt seine Leiche zu Füßen des Kreuzes. Später wird sie weggeschafft und Gurnemanz platziert die zerbrochenen Stücke des INRI-Schildes vor dem riesigen Kruzifix. Später fällt Jesus fast vom Kreuz und bleibt in Schieflage daran hängen. Erst später wird er wieder so leidlich aufgerichtet.

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Die Knappen deutet der Regisseur als Klosterschüler, die vor ihrem harten Lehrer Gurnemanz großen Respekt haben. Letzterer ist zudem noch der Chronist des Gralsordens. Ständig führt er eine dicke Chronik mit sich, in die er auch mal etwas eintragen darf. Er hat es auf die Leitung des Ordens abgesehen. Sein Machtstreben ist von Erfolg gekrönt. Der Gralskönig Amfortas stellt nur noch eine Marionette in Gurnemanz‘ Händen dar, der hier zudem noch als Gralsträger  fungiert. Das heilige Gefäß ist bei Metzger ein nicht gerade prachtvolles, unscheinbares Trinkgefäß, nach dem die Gralsritter verlangend die Hände ausstrecken. Anschießend stürzen sie wie wild auf das Heilsgefäß zu und beginnen sich darüber heftig zu streiten. Hier ist auch Titurel, der in den meisten Inszenierungen des Parsifal meist unsichtbar bleibt, am Tisch sitzend, präsent. Ungemein eindringlich ist dem Regisseur die Szene gelungen, als Parsifal sich hilfsbereit um den klagenden Amfortas kümmert. Dieser richtet die Worte Du Allerbarmer! Ach, Erbarmen! direkt und hilfesuchend an die Adresse des reinen Toren, der an dieser Stelle durchaus schon großes Mitleid mit dem Gralskönig fühlt, aber noch nicht weiß, wie er ihm helfen soll. Dieser Regieeinfall ging wahrlich unter die Haut.

Szenisch ungemein gelungen war der zweite Aufzug. Jetzt hängt Jesus wieder wie am Anfang an dem unversehrt dastehenden Kreuz, nur jetzt im Zeichen des Wortes Love. Metzger interpretiert Klingsor als Pseudo-Christus, der zusammen mit den mit Messern ausgestatteten, mordbereiten Blumenmädchen und den zu ihm übergelaufenen abtrünnigen Gralsrittern eine ausgelassene Rauschgiftparty feiert. In diese platzt Parsifal bereits ganz zu Beginn des zweiten Aufzuges herein. Gleich wird ihm eine Droge verabreicht, die ihn für einige Zeit Schach-Matt setzt. Als er erwacht, umgarnen ihn die Blumenmädchen, wobei auch deren geliebte Männer anwesend sind. Zu Kundrys Erzählung fällt im Hintergrund ein großer transparenter Blumen-Zwischenvorhang. Durch ihn sieht man Herzeleide und das Kind Parsifal, das sich im Bogenschießen übt. Mit demselben Bogen wird er später den Schwan erlegen. Diese Reise in die Vergangenheit stellt eine gute Idee des Regisseurs dar. Später sieht man noch andere Handlungsträger durch den Zwischenvorhang. Ein trefflicher Einfall seitens der Regie war es auch, zur Speerwurf-Szene die Blumenmädchen wieder erscheinen zu lassen. In dem Augenblick, in dem Parsifal den Heiligen Speer auffängt, sind auch sie aus der Macht Klingsors befreit. Rachelüstern stürzen sie sich auf ihn und töten ihn mit ihren Messern.

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Im dritten Aufzug liegen Kreuz und Heiland zerstört am Boden. Im Hintergrund sieht man die Leiche Titurels, um die Gurnemanz sich rührend kümmert. Parsifal ist bereits von Anfang an auf der Bühne. Teilnahmslos und unbeweglich sitzt er am linken Rand der Bühne neben dem Heiligen Speer. Seine Worte Heil mir, dass ich Dich wiederfinde! richtet er nicht, wie von Wagner vorgeschrieben, an Gurnemanz, sondern an Kundry – eine Regieidee von großer Wirkung. Während des Karfreitagszaubers begraben Parsifal und Kundry die Bruchstücke von Kreuz und Gekreuzigtem. Den Speer übergibt der reine Tor dann an Kundry. In ihren Händen bringt dieser Amfortas Heilung. Am Ende trägt Kundry ein kleines Kruzifix – eine Versinnbildlichung eines neuen Glaubens, der noch in den Kinderschuhen steckt, aber sicher noch wachsen wird. Sie und Parsifal führen die Ordensbrüder von dannen. Nur die Bewahrer des alten Glaubens, Amfortas und Gurnemanz mit dem Speer, bleiben zurück. Das war alles überaus überzeugend und mit Bravour auf die Bühne gebracht.

Im Graben animierte GMD Felix Bender das bestens disponierte Philharmonische Orchester der Stadt Ulm zu einem ungemein intensiven, expressiven und farbenreichen Spiel von enormem Glanz. Der Dirigent fasste Wagners Werk nicht als Weihespiel auf, sondern durchweg als große Oper. Die von ihm angeschlagenen Tempi waren relativ rasch und die einzelnen Instrumentengruppen phantastisch aufeinander abgestimmt. Warm dahinfließende Streicher, markante Bläser, zarte Oboen und wunderbare Hörner taten ein Übriges, den Klangteppich differenziert und nuanciert zu gestalten. Was an diesem Abend aus dem Graben tönte, war einfach nur toll!

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Nun zu den gesanglichen Leistungen: Für den Parsifal brachte Markus Francke einen feinen, hellen, mehr lyrischen als dramatischen Tenor mit, dem es indes noch ein wenig an Reife mangelte. Etwas mehr sonoren Stimmklang hätte man sich von ihm gewünscht. Über die Besetzung der übrigen Hauptpartien konnte man nicht klagen. Der Star des Abends war der Gastsänger KS. Wilfried Staber vom Theater der Stadt Heidelberg, der mit herrlich profundem, tiefgründig klingendem und schön auf Linie geführtem Bass dem Gurnemanz ein hervorragendes stimmliches Profil verlieh. Ebenfalls zu Gast in Ulm war Sabine Hogrefe, die mit voll klingender Mittellage, strahlenden Spitzentönen und elegantem Legato eine prachtvolle Kundry sang. Herrliches, bestens italienisch geschultes und wandelbares Bariton-Material mit sicheren Spitzentönen brachte Dae-Hee Shin in die Partie des Amfortas ein. Mit robustem, in jeder Lage ausgeglichen klingendem Bariton gab Martin Gäbler einen eindrucksvollen Klingsor. Von dem ausgesprochen voll und rund singenden Titurel Milcho Borovinovs hätte man gerne mehr gehört. Ordentlich klangen die beiden Gralsritter von Mykhailo Hnatiuk und J. Emanuel Pichler. Im aus Maria Rosendorfsky, Jasmin Hofmann, Maryna Zubko, Sungreun Park, Kiki Sirlantzi und Jungyoun Kim bestehenden Ensemble der Blumenmädchen vernahm man Gutes und auch nicht so Gutes. Frau Hofmann war, mit tadellosem Mezzo-Material ausgestattet, auch als zweiter Knappe und Altstimme aus der Höhe zu erleben. Alles andere als überzeugend waren Frau Rosendorfsky, Joshua Spink und Robert Tilson in den Rollen der übrigen Knappen. Ihnen fehlte es allesamt an der nötigen Körperstütze ihrer flachen Stimmen. Insbesondere der Tenor von Herrn Tilson wirkte noch ziemlich unfertig. Mächtig legte sich der von Nikolaus Henseler einstudierte Extra- und Opernchor des Theaters Ulm ins Zeug.

Fazit: Insgesamt eine Glanzleistung des Theaters Ulm! Der Besuch der Aufführung ist sehr zu empfehlen! Dieser Parsifal bereitet Freude!

Ludwig Steinbach, 9. April 2024


Parsifal
Richard Wagner

Theater Ulm

Premiere: 24. März 2024
Besuchte Aufführung: 7. April 2024

Inszenierung: Kai Metzger
Musikalische Leitung: GMD Felix Bender
Philharmonisches Orchester der Stadt Ulm