„Alleine dafür hat sich die Fahrt schon gelohnt“, meinte eine Besucherin des Konzerts am 2. November 2024 im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie mit Klaus Mäkelä und „seinem“ Oslo Philharmonic, als das erste Stück des Abends rauschhaft verklungen war. Eröffnungsmusik des Konzerts war George Enescus Rumänische Rhapsodie Nr. 1, eine wundervolle klingende Liebeserklärung an seine Heimat voller tänzerischer Quirligkeit in ungemein farbiger Instrumentierung, abwechselnd schwungvollen, lebensprühenden Passagen und wehmütigen Sequenzen voller Erdenschwere und Seelentiefe. Der Komponist selbst hat das Stück nicht sonderlich ernstgenommen – zumindest gab er sich so – und wahrscheinlich hätte er nichts dagegen gehabt, wenn man diese Rhapsodie als „große musikalische Balkanplatte mit extra Ajvar-Paprikapaste“ bezeichnet hätte. Vielleicht macht das die Leichtigkeit und Lebensfreude dieses erfolgreichen Stücks aus, das die Klischees gar nicht erst umgeht und bekannte rumänische Volkslieder und -tänze höchst kunstvoll aneinanderreiht („zusammenwürfelt“, meinte Enescu) und vor allem in temperamentvoller Steigerung immer aufs Neue zu einem Fest osteuropäischer Leidenschaft macht.
Mäkelä und die Osloer beweisen, daß nordische Kühle so gar nicht ihr Ding ist, und lassen nichts aus an feurigen Tempi und rhythmischen Achterbahnfahrten. Der Dirigent macht das kleine Podium zum Tanzboden und es hat den Anschein, als möchte er sich am liebsten tänzelnd durch das ganze Orchester bewegen. Vor allem hört man bei aller kunstmusikalischen Elaboriertheit immer auch die Straßenmusik durch, aus der sich das Stück speist; das Volkstümliche gerät absolut glaubhaft, fernab jeder Touristen-Folklore. Dafür gibt es schon die ersten „Bravo“-Rufe.
Wohl vertraut ist Dirigent und Orchester die Violinistin Vilde Frang; sie geben zusammen Strawinskys Concerto en Ré für Violine und Orchester, und man spürt sofort die harmonische Einheit von Solistin, Dirigent und Klangkörper.
Zu dem Werk ließ sich der Komponist von der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts anregen und es klingt manchmal so, als hätte er sich selbst parodiert, mit all den typischen Sprödigkeiten und Brüchen, dem Spiel mit Dissonanzen und, in diesem Falle ausgesprochen eingängigen, ja melodischen Auflösungen derselben. Der Eingangssatz könnte stellenweise als „Zirkusmusik auf Höchstniveau“ überschrieben sein; Strawinsky balanciert zwischen Burleske und Intellektualismus. Das tut er ja ohnehin oft, aber hier kommt erfrischende Selbstironie dazu.
Die großartige Geigerin beherrscht die technisch hochanspruchsvolle Partitur mit selbstverständlicher Grandezza, sie läßt ihr Instrument krächzen und aufschreien, dann wieder sanft klagen und, vor allem im zweiten und dritten Satz, mit einer an Bach angelehnten Kantilene entsprechend, anmutig singen. Im Finalsatz mit seiner spannungsreichen Motorik und entsprechenden Temposteigerungen gibt sie noch einmal alles; dieses Capriccio ist wie ein junger Hund, der an der Leine zerrt, vorwärts drängt, sich kaum bändigen läßt, dann wieder kurz innehält, um wieder weiter zu hasten. Ein paar wegen des einsatzfreudigen Spiels gerissene Bogenhaare irritieren die Künstlerin nur eine Sekunde, dann jagt sie souverän weiter.
Ihre phantastische Leistung belohnt das Publikum mit kaum enden wollendem Applaus, eine kurze Montanari-Gigue gibt es als Dankeschön – und der junge Gentleman-Dirigent überläßt ihr den ganzen Beifall, indem er erst nach der Pause wieder die Bühne betritt.
Tschaikowskys Symphonie Nr. 4 f-Moll ist zwar ein in den Konzertsälen oft gespieltes Werk, aber wann hat man gerade die sanften, schmerzvollen Passagen dieser an Emotionen und Gestaltungsreichtum so übervollen autobiographischen Seelenmusik so empfindsam und hingebungsvoll gehört? Mäkelä drosselt Tempo und Dynamik gerade im ersten Satz so stark (die Pauke tapst auf Samtpfötchen), daß die Klänge der Sehnsucht den Blick in kleine Ewigkeiten gewähren; es sind zeitenthobene Momente der Selbstwahrnehmung einer angefochtenen Psyche und des Versuchs, das eigene rastlose Suchen irgendwo im Universum zu verorten, wo es keine Hast und getriebene Jagd nach der Beantwortung der innersten existentiellen Fragen mehr gibt. Weniger ist das nicht, was der junge Finne und die Osloer da abliefern.
Sie kosten alles an dem aus, was an Schicksalsschwere und, durch Crescendi illustriert, aufkeimender Hoffnung und weitergehendem Kampf ums eigene Selbst sich Bahn bricht in dieser Symphonie. Man ist von Mäkelä ja vollen Einsatz gewöhnt und so biegt er sich manchmal fast auf den Boden, um höchstgespannte Eindringlichkeit zu vermitteln. Größte Innigkeit wird so im Klagegesang des zweiten Satzes erreicht, der nicht umsonst Andantino in modo di canzone bezeichnet ist. Dann wieder streckt er wie ein menschgewordenes Andreaskreuz alle Glieder von sich, als würde er den ganzen Saal umfassen wollen.
Kleinen Vögelchen gleich fliegen die Pizzicato-Reihen des dritten Satzes daher, der ja als Scherzo etwas augenzwinkernd das Treiben auf der Straße malt; fast schneiden die Flöten – so lustig ist das alles ja doch nicht. Auch der Finalsatz zitiert volkstümliche Aspekte, wenngleich immer wieder durchflimmert, was die gequälte Seele plagt. Das „Peng!“ des Einsatzes wirkt ebenso lebens-explosiv wie ein großes Warnschild, daß ständig eine Katastrophe droht. Und so weiß man beim Hören gerade dieser Interpretation nicht, ob es ein Gewitter mit Donnergrollen ist oder ausgelassenes Treiben. „Wenn du in dir selbst keine Gründe zur Freude findest, dann schau auf die anderen Menschen. Geh unter das Volk, sieh, wie es sich zu vergnügen versteht, wie es sich schrankenlos den Gefühlen der Freude hingibt“, so Tschaikowskys Kommentar zu diesem Satz. Etwas springt über von der Unbeschwertheit der anderen, die aber eben immer „die anderen“ bleiben werden, letztendlich abgetrennt von dem einsamen Sucher.
Die fulminante Lebensbejahung in den letzten Takten des Werks ist in jedem Falle ein prachtvoller Abschluß des Abends und so läßt das enthusiasmierte, größtenteils stehend klatschende Publikum die so temperamentvollen Nordleute nicht ohne Zugabe gehen – ungewöhnlich nach einer solch fülligen Symphonie, aber es paßt gerade so schön. Daher gibt es Rachmaninows Prélude in cis-Moll in der Bearbeitung von Leopold Stokowski mit der ihm eigenen Portion Pathos. Hier gerät´s zum Triumph eines Orchesters voller Virtuosen und seinem charismatischen Dirigenten.
Andreas Ströbl, 4. November 2024
George Enescu, Rumänische Rhapsodie Nr. 1 A-Dur op. 11
Igor Strawinsky, Concerto en Ré für Violine und Orchester
Piotr Tschaikowsky, Symphonie Nr. 4 f-Moll op. 36
Oslo Philharmonic
Hamburg, Elbphilharmonie
2. November 2024
Musikalische Leitung: Klaus Mäkelä
Violine: Vilde Frang
Oslo Philharmonic