Im Frühling des Jahres 1761 reiste der 29-jährige Musiker Joseph Haydn (1732-1809) mit seiner vor knapp sechs Monaten geehelichten Frau Maria Anna Theresa geborene Keller aus Wien kommend, im ungarischen Eisenstadt an. Der Fürst Paul II Anton (1711-1762) hatte ihn als Vizekapellmeister zur Unterstützung des auf Grund seines Alters zunehmend unpässlichen Oberkapellmeisters Gregor Joseph Werner (1693-1766) mit der Aussicht auf dessen Nachfolge angeworben. Als Verheirateter konnte Haydn nicht in den am Schloss angebauten Musikerquartieren wohnen. Die Eheleute nahmen deshalb zunächst im 2300 Einwohner umfassenden bürgerlichen Teil der Stadt als Untermieter Quartier.
Als bereits im Folgejahr Paul II Anton verstorben war übernahm dessen Bruder Nikolaus I. (1714-1790), genannt der Prachtliebende, die Fürstenwürde derer von Esterhazy. Er ließ die Sommerresidenz Esterháza im ländlichen Ungarn für glanzvolle Festivitäten ausbauen und stockte recht zügig seine Hofkapelle auf. Da zwischen Haydn und Werner zunehmend Differenzen auftraten, war 1765 die Hofkapelle in die „Kirchenmusik“ und die „Kammermusik“ aufgeteilt worden. Aber erst nach dem Tode Werners wurde Joseph Haydn die Gesamtverantwortung für die Leitung des Orchesters, dem Spielen von Kammermusik für und mit dem Fürsten, das Arrangieren von Opernproduktionen sowie für die Neu-Kompositionen übertragen. Dabei musste er seine Aufgaben sowohl auf dem Stammsitz in Eisenstadt, als auch in der Sommerresidenz Esterháza und in der Wiener Stadtresidenz wahrnehmen.
In dieser Zeit hatte sich Haydn mit dem vermutlich einzigen Cellisten des Hoforchesters Franz Joseph Weigl (1740-1820) eng befreundet. Weigl beklagte sich beim Komponisten, dass bei der Fülle von Flöten- und Violinkonzerten ein Mangel eines Orchesterkonzertes mit Violoncello-Solo herrsche. Haydn komponierte für den Freund das C-Dur Violoncello-Konzert (von Hoboken mit Hob. VIIb:1 eingestuft). Da Haydn ein Schelm war und immer zu Streichen bereit war, hatte er dem Solisten im dritten Satz besondere technische Fertigkeiten abgefordert, die weit über den damaligen Standard der Cello-Spieler hinausragten, so dass sein 1. Cellokonzert noch derzeit zum technisch schwierigsten gehört, was die Cello-Literatur zu bieten hat. Die Komposition galt lange als verschollen, bis 1961 im Prager Nationalmuseum eine Kopie eines Cellokonzertes gefunden wurde, das zu Haydns Eintragungen in seinem „Entwurfs-Katalog“ passte.
Der in Dresden 1996 gebürtige, daselbst und in Leipzig sowie Weimar ausgebildete Friedrich Thiele hatte den Solo-Part bei der Interpretation der Komposition im 4. Symphoniekonzert der Staatskapelle übernommen. Friedrich Thiele, ansonsten leidenschaftlicher Kammermusiker, ist seit 2021 Erster Konzertmeister der Violoncelli der Sächsischen Staatskapelle. Die begleitenden Orchestermusiker der Dresdner Kapelle dirigierte der im Hause bestens eingeführte „Hohepriester der Alten Musik“ Philippe Herreweghe aus Belgien. Der erste Satz erinnerte mit seinem etwas steifen Rahmen trotz der Bemühung der Interpreten, den Marschcharakter zu vermeiden, etwas wettkämpferisch. Solo und Orchester stehen sich blockartig gegenüber und erinnern an den Spätbarock. Herreweghe, den wir bisher vor allem mit Chorwerken und seinem „Collegium Vokale Gent“ erleben durften, ließ seinem jungen Partner ordentlich Platz zu seiner Entfaltung. Richtige Bewegung kam tatsächlich erst mit dem dritten Satz in das Spiel, als der vom Adagio beruhigte Philippe Herreweghe sich veranlasst sah, mit dem Orchester Friedrich Thiele aus seinem festen Rahmen zu lösen und ihn regelrecht zu provozieren. Da saß jede Note und zeugte von der Präzisionslust des Flamen. Thiele antwortete und entwickelte sich zur treibenden Kraft eines faszinierenden musikalischen Wettspiels mit dem Orchester und bot leidenschaftliche höchst moderne Virtuosität.
Friedrich Thiele spielte ein Cello des aus Venedig stammenden Francesco Goffriller (1692-1750), das vermutlich im Jahre 1740 in dessen Udiner Werkstatt gebaut worden war.
Die Programmgestalter des 4. Symphoniekonzertes waren der traditionellen Konzertgestaltung gefolgt und hatten dem etwas flippigen Solokonzert aus den 1760-er Jahren mit der Symphonie Nr. 86 D-Dur Hob. I:86 ein Werk aus Haydns späteren der „glückliche Esterházy-Jahrzehnte“ vorangestellt. Trotz seiner gewaltigen Arbeitsbelastung konnte Haydn in den fast 30 Jahren auf Esterházy alles Musikalische ausprobieren, was ihm eingefallen war, und die Reaktionen auf sein Tun an einer hochprofessionellen Zuhörerschaft prüfen. Er komponierte eine Vielzahl von Symphonien, entwickelte das Prinzip der thematischen Arbeit, schrieb seine wegweisenden Streichquartette sowie Opern und umfangreiche Kirchenmusik. Mit einem gesicherten musikalischen Stil und seiner Popularität im europäischen Raum bekam er zunehmend auch Kompositions-Aufträge aus dem Ausland. Die exklusive Konzertreihe der Pariser Freimaurer „Concert de la Loge Olympique“ bat ihn am Ende des Jahres 1784 um einen Satz von sechs Symphonien. Haydn führte den Auftrag erst in den folgenden zwei Jahren aus. Im Hoboken-Verzeichnis sind die Kompositionen unter den Nummern 1:82 bis 1:87 aufgeführt und als „Pariser Symphonien“ bekanntgeworden. Das Autograph der Symphonie Nr. 86 D-Dur war vermutlich das Letzte der sechs Partituren, das 1786 nach Paris geschickt wurde und dort umgehend aufgeführt wurde.
Die für ihre dramatischen Kontraste und verzwickten Themenverarbeitungen bekannte Symphonie wurde von Herreweghe mit Energie und voller Ideen zur Geltung gebracht. Mit seiner dynamischen Rhythmik verschaffte er dem Kopfsatz eine lebendige Atmosphäre. Melodische Schönheiten ließ Herreweghe die Musiker der Staatskapelle im langsamen Mittelsatz dahingleiten, während er das Menuett des dritten Satzes sich beweglich und etwas pompös entfalten ließ. Man spürte regelrecht, dass sich der Dirigent und die Orchestermusiker mögen, als sie mit dem Finalsatz kraftvoll eine fröhliche und schwungvolle Stimmung in den Abschluss brachten.
Joseph Haydn war fast 30 Jahre auf Esterházy tätig. In der Zeit als Joseph Haydn auf Esterházy lebte, war die Hofkapelle von etwa 25 Musikern auf bis zu 50 Mitglieder (einschließlich des ständigen italienischen Opernensembles) im Jahre 1780 angewachsen.
Der Sohn des „Prachtliebenden“ Fürst Anton (1738-1794) war nur vier Jahre Majoratsherr auf Esterházy, erbte aber von Nikolaus I. einen Schuldenberg in Höhe von 3,8 Millionen Gulden. Das entspricht einer derzeitigen Kaufkraft von fast 100 Millionen Euro. Sein Sparwille führte zur Abkehr von der Sommerresidenz Esterháza, zur Entlassung des Opernensembles und zur Reduzierung der Hofkapelle. Auch Haydn wurde weggeschickt.
Im zweiten Konzert-Teil stand Wolfgang Amadeus Mozarts (1756-1791) „Symphonie Nr. 38 D-Dur KV 504 Prager „ auf dem Programm.
Der auf kaiserliche Anordnung von Mozart vorgenommene Vertonung des Figaro-Stoffes von Beaumarchais (1732-1799) war am 28. März 1786 dank der Intrigen des neidischen Antonio Saleri (1750-1825) sowie der Unlust der Sänger bei der Uraufführung im Wiener Burgtheater kein Erfolg beschieden gewesen. Am 11. Dezember 1786 brachte die alternierend in Leipzig, Warschau und Prag spielende Bondiminische Gesellschaft „Le Nozze di Figaro“ an die Moldau und erzeugte einen regelrechten Mozart-Hype. In Prag war man neugierig auf das junge Genie geworden. So organisierte das befreundete Ehepaar Duschek und der Theater-Mäzen Graf Johann Josef Thun-Hohenstein, dass das Ehepaar Mozart im Januar 1887 nach Prag kam, um dort die Oper am 17. Januar zu erleben. Am 22. Januar leitete Mozart die Folgeaufführung. Aber bereits am 19. Januar gab Mozart im Nationaltheater seine erste von zwei Akademien. Mit seinem Klavierspiel schaffte er ein derartiges Aufsehen, dass die Erstaufführung der D-Dur-Symphonie Nr. 38 bei den Prager Musikfreunden wenig Beachtung fand. Die Betitelung „Prager“ hatte sich aber durchgesetzt. Zeitgenössische Komponisten sollten sich deshalb nicht grämen, wenn ihre Werke bei einem unvorbereiteten Zuhörerkreis nicht auf Anhieb Begeisterung hervorrufen.
Unter Philippe Herreweghes Dirigat boten uns die Musiker der Sächsischen Staatskapelle ein beeindruckend transparentes Klangbild voller Tiefe und Ausdruckskraft. Das präzise Spiel des Orchesters verschaffte dem ersten Satz eine besondere lebendige Dramatik. Streicher und Holzbläser, besonders die hell durchscheinende Flötenstimme, kamen dank der zurückhaltenden Blechbläser im Andante zur besonderen Wirkung. Das Presto gestaltete Herreweghe mit einer regelrechten Explosion von Fröhlichkeit und Virtuosität zu einem mitreißenden Finale.
Das überwiegend bejahrte Publikum der ausverkauften Matinee feierte den Flämischen Gast und das Orchester frenetisch.
Thomas Thielemann, 16. Dezember 2024
Joseph Haydn: „Symphonie Nr. 86 D-Dur Hob. I:86“,
Joseph Haydn: „Violoncellokonzert C-Dur Hob. VIIb:1“,
Wolfgang Amadeus Mozart: „Symphonie Nr. 38 D-Dur KV 504 „Prager“
Matinee des 4. Symphoniekonzertes der Sächsischen Staatskapelle
15. Dezember 2024 in der Semperoper Dresden
Dirigent: Philippe Herreweghe
Solist: Friedrich Thiele Violoncello
Sächsische Staatskapelle Dresden