Kann man Gemälde in Musik setzen? Kann man Optisches akustisch nachbilden? Man darf da gern seine Zweifel haben. Eduard Hanslick, der sich als Kritiker unsterblich machte, indem er Wagner, Bruckner und den jungen Strauss niedermachte, stellte mit seiner Dissertation Vom musikalisch Schönen durchaus Richtiges fest: „Etwas nachzumusizieren gibt es in der Natur nicht. Die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre, kein Rondo. Wohl aber Landschaften, Genrebilder, Idyllen, Trauerspiele. (…) Nicht sklavisch nachbilden soll die Kunst die Natur, sie hat sie umzubilden. Der Ausdruck zeigt schon, dass vor der Kunst etwas da sein musste, was umgebildet wird. Dies ist eben das von der Natur dargebotene Vorbild, das Naturschöne. Der Maler findet sich von einer reizenden Landschaft, einer Gruppe, einem Gedicht, der Dichter von einer historischen Begebenheit, einem Erlebnis, zur künstlichen Darstellung des Vorgefundenen veranlasst. Bei welcher Naturbetrachtung könnte aber der Tonsetzer jemals ausrufen: das ist ein prächtiges Vorbild für eine Ouvertüre, eine Symphonie! Der Komponist kann gar nichts umbilden, er muss alles neu erschaffen.“
Eben deshalb schätzen wir ja, zum Beispiel, den Zyklus Bilder einer Ausstellung des Orignalgenies Modest Mussorgsky: weil wir ihn verstehen, obwohl die meisten Bilder, auf die sich der Komponist bezog, unbekannt sind. Andererseits: Würden wir, wenn wir nicht den Titel des 9. Satzes kennen würden, wirklich darauf kommen, dass hier eine alte Hexe gemalt wird, die auf einem von einem Stößel angetriebenen Mörser reitet? „Dessen wuchtiges Stampfen“, so lesen wir’s im bekannten Internetlexikon, bestimme „den Charakter des wilden Hexenritts, den Mussorgsky in den Eckteilen dieses Stücks beschreibt, während im Mittelteil die unheimliche Atmosphäre des Walddickichts beschworen wird“. Mal ehrlich: Ohne den Titel könnten wir einen Kosakentanz assoziieren; der ruhigere Innenteil könnte die flackernden Gefühle des Kosaken zeichnen, der zwischendurch einen Nebenbuhler in unguter Nähe zu seiner Schönen sehen muss. Den inneren Bildwelten sind, seien wir ehrlich, Tür und Tor geöffnet, wo keine lenkenden Titel die Sicht auf die Musik selbst verstellen.
Worauf also kommt es an? Auf die Interpretation. Die ist bei Julian Ritschel in den besten Händen. Anders als Milus Scruggs, der 2009 am gleichen Ort eine seltsam cowboyhafte Deutung des Werks zum Besten gab – damals war der russische Donnerklang eines betrunkenen Genies zu hören –, anders als der forsche US-Amerikaner spielt Ritschel mit kontrollierter Emphase. Darin erweist er sich als typischer Schüler Michael Wessels, eines Klavierlehrers an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik Bayreuth, dessen Schülerinnen und Schüler stets durch Takt, Disziplin und durchaus ungewöhnliche musikalische Deutungskraft auffallen. Beispiel: Nadja Rangott spielt das erste Duetto aus Bachs III. Klavierübung mit geradezu französischer clarté, aber auch mit kleinen Innenspannungen, die aus Bach allerdings keinen Romantiker machen. Rangott bietet eine Erzählung, die gleichzeitig strukturell klar und inhaltlich bedeutend ist – ohne dass man sie in Worte, gar ein Bild fassen könnte. Liszts Dante-Sonate klingt, analog dazu, bei allen nötigen und Hand wie Geist fordernden Virtuositäten und dynamischen Kräften, immer noch so nobel, wie der Komponist es sich vermutlich gedacht hat.
„Bilder einiger Ausstellungen“, so hat Wessel das Programm genannt. Wir hören einen Zyklus und Ausschnitte aus Zyklen, auch Ravels Une barque sur l’Océan (aus den Miroirs), die unter den Händen von Nadja Rangott so brillant und bildhaft klingt wie nur möglich: mit Steigerungsmöglichkeiten ab dem initialen piano. Gleichfalls ausgebrochen aus einem Zyklus: drei der Six Encores des Luciano Berio, der heuer seinen 100. Geburtstag feiern könnte, würde er noch leben. Er lebt durch seine Musik, die, bei aller Freitonalität, Ravel verwandter ist als man zunächst ahnt. Matthias Müller beginnt mit der Nr. 2, Leaf, die Musik flattert wie ein Band durch die Luft, die im Luftklavier von Nicolas Jacoby polyrhythmisch zum Schwingen und beim Feuerklavier erhitzt gebracht wird – es sind im Übrigen technisch herausfordernde Stücke, die auch als „Zugaben“ eine gute Wirkung tun würden (der Opernfreund denkt mit Vergnügen an Berios Oper Un re in ascolto, deren Salzburger Uraufführung er 1984 mit Spannung am Radio verfolgte, bevor er am selben Ort im Jahre 1999 die Premiere von Berios Oper Cronaca del luogo und drei Jahre später im Großen Festspielhaus den „Berio-Schluss“ der Turandot endlich live anhören konnte).
In Bayreuth arbeiten die jungen Leute mit dem Sordino-Pedal, dem Spezialeffekt, wie er nur auf einigen wenigen Steingraeber-Pedalen realisiert werden kann. Das alte Schloss klingt also wie ein Märchen aus uralten Zeiten daher. Es könnte sich allerdings auch um eine einsame Karawane handeln, die sich im gemächlichen Schritt der Kamele in der Ferne von uns wegbewegt…
Wie gesagt: Es kommt auf die Interpretation an. Mit Wessels Klavierschülerinnen und -schülern ist Vieles möglich.
Frank Piontek, 27. Juni 2025
„Bilder einiger Ausstellungen“
Klavierklasse Michael Wessel
Steingraeber Kammermusiksaal, Bayreuth
26. Juni 2025