Augsburg: „Der König Kandaules“

Zum Zweiten

Besuchte Aufführung: 14.10.2015 (Premiere: 27.9.2015)

Bizarre Märchengroteske

Das Theater Augsburg war wieder einmal eine Reise wert. Dieses Mal lockte die Aufführung von Alexander Zemlinskys selten gespielter Oper „Der König Kandaules“ – eine echte Rarität, deren Ausgrabung der Augsburger Theaterleitung zur großen Ehre gereicht. Hier haben wir es wieder einmal mit spannendem Musiktheater auf ausgezeichnetem Niveau zu tun.

Mathias Schulz (Kandaules)

Entstanden ist das reizvolle Werk in großen Teilen in den Jahren 1935 bis 1939. Zu einer Aufführung im deutschsprachigen Raum kam es aber nicht mehr, da der von den Nazis verfolgte jüdische Komponist Zemlinsky in die USA fliehen musste. Er hoffte dann seine Oper, für die er auch selbst das Libretto verfasste, in New York beenden und zur Aufführung bringen zu können. Aber auch dies sollte ihm nicht gelingen, da der Stoff dem amerikanischen Publikum zu gewagt war. Die am Ende des zweiten Aktes vorgesehene Nacktszene der Nyssia war an der Metropolitan Opera damals ein Ding der Unmöglichkeit. Der Chefdirigent dieses renommierten Opernhauses Artur Bodanzky weigerte sich dann auch, das Werk aufzuführen, weswegen Zemlinsky die Komposition nicht beendete. Der „König Kandaules“ blieb demzufolge Fragment. Nach Zemlinskys Tod im Jahre 1942 verschwand er für Jahrzehnte in der Versenkung. Erst in den 1990er Jahren wurde die Oper von Anthony Beaumont zu Ende geführt und an der Hamburger Staatsoper zur Uraufführung gebracht. Trotz des immensen thematischen und musikalischen Gehalts der Oper ist die Augsburger Produktion erst die zehnte. Sie setzt die Pause im zweiten Akt genau an der Stelle, an der Zemlinsky die Komposition abbrach und Beaumont später die Arbeit fortsetzte.

Ensemble

Die Handlung geht auf André Gides Drama „Le roi Candaule“ zurück. Bereits Herodot hatte den Sagenstoff bearbeitet. Geschildert wird die Geschichte des Königs Kandaules, der es nicht ertragen kann, dass keiner außer ihm selbst seine schöne Frau Nyssia zu Gesicht bekommt. Daher zwingt er sie, sich vor seinem Hof und seinen Freunden zu entschleiern. Den armen Fischer Gyges kennt er seit seiner Kindheit. Inzwischen haben sie sich indes entfremdet. Als Gyges einen Fisch an den Hof bringt, in dem man einen Zauber-Ring findet, sehen sie sich wieder. Der Fischer erscheint dem König bedürfnislos. Das provoziert Kandaules. Er bestimmt Gyges dazu, mit Hilfe des magischen Rings, der seinen Träger unsichtbar macht, seiner Frau Nyssia beizuwohnen. In der Nacht liegt Gyges anstelle von Kandaules bei der völlig nackten Königin. Als diese am nächsten Morgen den Betrug entdeckt, fordert sie Gyges auf, Kandaules zu töten. Der Fischer entspricht ihrem Willen und wird von ihr anschließend zum neuen König gekrönt.

Oliver Zwarg (Gyges), Sally du Randt (Nyssia)

Die Regie sollte ursprünglich Lorenzo Fioroni übernehmen. Eine Erkrankung zwang ihn aber bereits in einem sehr frühen Stadium der Arbeit, die Produktion abzugeben. Diese wurde dann von Soren Schuhmacher übernommen und auf der Grundlage konzeptioneller Ideen Fioronis zu Ende gebracht. Mit im Boot saßen Paul Zoller (Bühnenbild) und Annette Braun (Kostüme). Das Ergebnis ist sehr überzeugender Natur. Das halb in Trümmern liegende Bühnenbild weist Aspekte verschiedener Glaubensrichtungen auf. Da finden sich unter einer Anhäufung von Müll sowohl christliche, aber auch antike und islamische Elemente, die wohl aus Beutezügen des hier offenbar auch kriegerischen Königs Kandaules stammen. In erster Linie wird er von der Regie aber als Künstler gezeigt, der aufgrund des materiellen Überflusses, in dem er lebt, seine Schaffenskraft verloren hat. Seine Produktivität ist bei Null angelangt und seine Inspiration erschöpft. So sinnlos wie die ganze ihn umgebende Hofpracht ist auch sein Leben geworden. Das Haus Kandaules ist gleichsam in Dekadenz erstarrt und zudem in hohem Maße entartet.

Oliver Zwarg (Gyges), Mathias Schulz (Kandaules)

Das zeigt sich insbesondere bei den mit missgebildeten, übergroßen Händen und Ohren ausgestatteten Höflingen, die zu Beginn ihre modernen Anzüge mit reichlich bizarr anmutenden Kostümen vertauschen. Da drängt sich einem nachhaltig der Eindruck auf, dass es sich bei dieser bunten, komischen Schar um die sieben Zwerge aus dem Märchen „Schneewittchen“ handelt. Dass diese Impression nicht trügt, bestätigt sich spätestens im zweiten Akt, wenn Nyssia sich in ihrem unterirdischen Gemach, das eher wie ein Keller wirkt, zusätzlich zu ihrer roten Haarschleife auch noch das blaue Kleid Schneewittchens aus dem gleichnamigen Film von Walt Disney anzieht, wobei man sie für einen kurze Augenblick oben ohne, wenn auch mit dem Rücken zum Publikum, sieht. Gleich einer Lulu wird die Königin zum puren Objekt degradiert. Sie gewinnt aber zunehmend an Eigenständigkeit und entwickelt einen eigenen Willen, der schließlich in dem Mordauftrag an ihrem Mann mündet.

Sally du Randt (Nyssia), Oliver Zwarg (Gyges), Mathias Schulz (Kandaules)

Schuhmacher macht aus der Geschichte eine recht kurios anmutende Märchengroteske. Hier haben wir es mit einer künstlichen Welt zu tun, die der Imagination des vom Überfluss übersättigten Kandaules entspringt. Er hat sich dieses Märchenambiente geschaffen, weil er aus einer gewissen Beschränktheit heraus die Realität nicht mehr ertragen kann und sich demgemäß als Ersatz in eine Scheinwelt geflüchtet. Erst in dem Augenblick, als er glaubt alles, auch seine schöne Gemahlin, mit dem Fundamentalisten Gyges – dessen von ihm ermordete Frau stellt eine Marien-Statue dar – und seinem Hofstaat geteilt zu haben, findet er in die Wirklichkeit zurück und nimmt den Höflingen nun ihre übergroßen Hände ab. Aus den Zwergen werden wieder Menschen, die Realitätsflucht des Herrschers hat ein Ende. Die absurde Märchenwelt weicht der Gegenwart. Und die Herstellung von Bezügen zur Moderne ist ein gewichtiges Ziel des Regisseurs.

Mathias Schulz (Kandaules), Oliver Zwarg (Gyges)

Auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Matthias Schulz hatte sich die Anlage des Regisseurs vom Kandaules trefflich zu eigen gemacht und sie darstellerisch überzeugend ausgefüllt. Stimmlich war er nicht in gleichem Maße überzeugend. Zwar verfügt er über schönes Tenor-Material, das indes zu wenig italienisch geschult ist. Ganz anders dagegen Sally du Randt, die mit intensivem Spiel die Nyssia aus der ihr vom Komponisten aufgezwungenen Passivität befreite und ihrer Rolle mit wunderbar warm und gefühlvoll klingendem, bestens focussiertem und in jeder Lage gleichermaßen sicher ansprechendem Sopran auch stimmlich voll und ganz entsprach. Als Gyges bewährte sich Gastsänger Oliver Zwarg, den man schon von größeren Bühnen her kennt. Schauspielerisch stets präsent und sehr charismatisch auftretend gelang ihm auch vokal mit eindrucksvollem, markantem Bariton ein eindringliches Rollenportrait. Unter den Höflingen ragten insbesondere Ji Woon Kim (Syphax, Simias), Young Kwon (Philebos, Koch) und der junge Eleve des Augsburger Theaters Georg Festl (Pharnaces) heraus. Aber auch Giulio Alvise Caselli (Phedros), Fabian Langguth (Nicomedes), Joel Annmo (Sebas) und Markus Hauser (Archelaos) zeigten sich stimmlich versiert.

In Hochform präsentierten sich auch Lancelot Fuhry und die bestens disponierten Augsburger Philharmoniker. In dem aufwühlenden, reißerischen Klangteppich waren Vorbilder Zemlinskys wie Wagner, Strauss und Mahler gut auszumachen. Der expressive Charakter der Musik wurde hervorragend herausgestellt, aber genauso gut die impressionistischen Charakterzüge der vielschichtigen Partitur betont. Dazu gesellten sich eine ausgewogene Skala von einfühlsamen dynamischen Abstufungen sowie eine schöne Farbpalette.

Eine regelrecht preisverdächtige Aufführung, deren Besuch sehr zu empfehlen ist!

Ludwig Steinbach, 16.10.2015

Die Bilder stammen von A. T. Schaefer

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weiterer Buchtipp zur Oper (Bid unten)