Das 25. Amazonas Opernfestival (FAO) wartete in dieser Jubiläums-Saison gleich mit vier Opern auf, zwei brasilianischen und zwei des klassischen europäischen Kanons, i.e. „Peter Grimes“ von Benjamin Britten und „Anna Bolena“ von Gaetano Donizetti. „Peter Grimes“ wurde als einzige aus dem Vorjahr übernommen, und kaum war der Vorgang im fast voll besetzten Teatro Amazonas am großen Rio Negro oben, wurde klar, was sicher einer der Gründe dafür war.
Im einfachen, ja veristischen Bühnenbild einer Fischergemeinde am Fluss von Julián Hoyos erleben wir im Vorspiel gleich die intensive Befragung von Peter Grimes durch den Rechtsanwalt Swallow nach den Gründen für das Umkommen des jungen Gehilfen von Grimes beim Fischen auf dem Meer. Die Szene ist mit der Reaktion der Firscheigemeinde drum herum von einer solchen Intensität, dass die Inszenierung von Pedro Salazar einen sofort mit Haut und Haaren in diese starke Oper von Benjamin Britten hineinreißt. Dafür ist auch der hervorragende Sängerdarsteller Fernando Portari als Grimes verantwortlich, aber auch Sávio Sperandio als Swallow. Portari lässt mit seinem facettenreichen und kraftvollen Tenor, den er bis zu einer quälenden Tongebung unter dem Druck der Vorwürfe gegen ihn verbiegen kann, die ganze innere Zerrissenheit der Titelfigur erkennen und überaus authentisch miterleben. Mit Portari haben wir den Grimes vor uns, der Britten vorgeschwebt haben muss: ein ganz einfacher Mensch, schwach und im Kampf gegen die Gemeinschaft, in der er lebt und auch leben will, weil sie die seine ist, mit deren Verhaltenscodes er aber nicht harmoniert und die er deswegen immer wieder gegen sich aufbringt. Denn sie kennt unerschütterlich nur ihre Verhaltenscodes, und alle Abweichler davon werden gestraft und, wie sie es letztlich mit Peter Grimes macht, zerstört.
Damit hat das Drama um Grimes auch eine hochaktuelle Relevanz – leider muss man natürlich sagen. Gerade in unserer von den sozialen und sonstigen Cyber-Medien, einer ähnlich anonymen Quelle wie jener der Masse in Brittens Oper, sowie auf der zweifelhaften Basis von vermeintlichen Wahrheiten beruhenden Zeit, denen sich die meisten immer weniger zu widersprechen trauen und der sich dann bildenden „Wahrheitsfindung“ ist ein Individuum wie ein Peter Grimes ohne jeden Schutz und hochgefährdet. Er könnte heute viele Namen haben, sehr viele…
Das alles zeigt Pedro Salazar in Manaus in eindrucksvoller, aber auf ganz einfache Art und Weise. Immer wieder spielt das Fischer-Boot von Grimes eine Rolle. Er zeigt auch mit einem dazu perfekt agierenden Fernando Portari sein tiefstes Inneres, die Vielschichtigkeit der Rolle mit seinen Visionen, die ihn als Persönlichkeit über die uniforme Masse erheben, aber dennoch scheitern lassen.
Natürlich gibt es mit dem Bordell, in dem auch einmal Swallow verschwindet, trotz aller sonst zur Schau getragenen gesellschaftlichen Seriosität, den Hinweis auf die Verlogenheit dieser Gesellschaft. Sávio Sperandio gestaltet ihn mit einem profunden Bass und starker Persönlichkeit. Daniella Carvalho sorgt als Ellen Oxford mit einem wohlklingenden Sopran und Rhuann Gabriel als dem kleinen John für einen Hauch von Menschlichkeit in diesem harten Geschehen. Und so stärker wirkt der Verlust für Grimes, wenn der kleine Kerl von den Klippen zu Tode stürzt. Homero Velho singt mit kraftvollem Bariton einen exponierten Kapitän Balstrode, der zuerst Grimes zugetan ist, letztlich aber auch zu seinen Lasten umfällt und ihm rät, sich mit seinem Kahn auf dem Meer zu versenken. Diese letzte Szene ist bei einer ohnehin allgemein ausgezeichneten Personenregie an menschlicher Intensität kaum zu überbieten. Thalita Azevedo singt und spielt eine engagierte Auntie mit gutem Mezzo, und Daniel Umbelino, Carla Rizzi sowie Wilken Silveira überzeugen neben anderen in kleineren Rollen.
Der künstlerische Direktor des Amazonas Opernfestivals, Luiz Fernando Malheiro, steht am Pult der Amazonas Filarmônica und unterstreicht mit den guten musikalischen Mitteln des Ensembles, das mittlerweile über 80 Musiker umfasst, die vielschichtige und an Emotion reiche Musik der Oper. Eine ganz herausragende Rolle spielt der Coral do Amazonas, also der Amazonas-Chor, nicht nur mit beeindruckender stimmlicher Präzision bei entsprechender Führung durch den Dirigenten, sondern auch durch eine gute Bewegung auf der Bühne als integraler Bestandteil des Geschehens. Die den einfachen Verhältnissen angepassten Kostüme stammen von Olga Maslov, und Fábio Retti zeichnet für die gute Lichtregie verantwortlich. Ein nahegehender Abend im Teatro Amazonas mit einem Riesenapplaus für alle Akteure, insbesondre aber für Fernando Portari, der sich wegen eines kleinen Infekts im 2. Teil ansagen lassen musste.
Klaus Billand, 5. Juni 2023
Peter Grimes
Benjamin Britten
Teatro Amazonas; Manaus, Brasilien
19. Mai 2023
Regie: Pedro Salazar
Dirigat: Luis Fernando Malheiro
Amazonas Filarmônica