Wien: „Kapitän Nemos Bibliothek“, Johannes Kalitzke (zweite Besprechung)

Die Uraufführung dieser Kammeroper in vier Teilen mit fünf reflektierenden Zwischenspielen fand als Auftragswerk der Schwetzinger SWR-Festspiele in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen am 29.4.2022 in Schwetzingen statt. Der in Köln geborene Komponist Kalitzke konnte sich bei dieser, seiner siebenten Oper den langersehnten Wunsch erfüllen, einmal eine Oper für Puppen zu komponieren. So weit so gut. Er stieß bei seiner Suche auf den Roman des schwedischen Romanciers Per Olov Enquist (1934-2020), von dem ich mich nur mehr an die an den Wiener Kammerspielen 1977 gezeigte „Nacht der Tribaden“ unter der Regie von Michael von Verhoeven erinnere. Aus der kruden Handlung dieses Romanes hat Julia Hochstenbach ein textlich wenig ansprechendes Libretto verfasst, das den rätselhaften und vieldeutigen Weg der Selbstfindung zweier nach ihrer Geburt vertauschten Kinder zu eigener Persönlichkeit aufzeigen soll: in einem kleinen nordschwedischen Dorf werden 1934 zwei Knaben geboren, die miteinander aufwachsen.

(c) Armin Bardel

Allen fällt aber auf, dass sie der Mutter des jeweils anderen wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Die Mutter des verschlossenen Ich-Erzählers ist gesellschaftlich etabliert, während die Mutter des „Sonnenscheins“ Johannes eine kalte Außenseiterin ist. Als die Verwechslung schließlich aufgedeckt wird, werden die Kinder nach einem Gerichtsbeschluss ihren leiblichen Eltern zurückgegeben. Damit ist die Angelegenheit für die religiös engstirnige Dorfgemeinschaft erledigt. In dieser unerträglich gewordenen Lebenssituation tauchen die Kinder in die Fantasiewelt der Bibliothek in Kapitän Nemos Unterseeboot Nautilus, entlehnt aus Jules Vernes Roman „Die geheimnisvolle Insel“. Die Bibliothek wird für sie zum Raum des Rückzugs und der Selbstreflexion. Es muss daher wie ein Akt der Befreiung für die beiden nunmehr schon erwachsen gewordenen Knaben wirken, wenn am Ende der Oper jenes „grüne“ Haus, in welchem beide nacheinander gewohnt haben, ein Raub der Flammen wird. Auf der Nautilus aber kommt es zum Kampf zwischen den beiden erwachsen gewordenen Knaben und Johannes stirbt. Nach dem Wunsche des Komponisten Kalitzke soll die szenische Umsetzung des fünfköpfigen Solistenensembles durch zwei Puppen erweitert werden, die als Rückbesinnung der beiden Heranwachsenden an ihre traumatische Kindheit fungieren. Simon Meusburger kam als Regisseur diesem Wunsch nach und versuchte das Neben- und Miteinander der Protagonisten und Puppen in einer Rückblende, die zwischen Traumwelt und Realität changierte, halbwegs erfahr- und nachvollziehbar zu machen. Die Bühne zeigt das schicksalhafte „grüne“ Haus und ein Dorf verkleinert wie in Minimundus. Die Kostüme sind den ländlich nordschwedischen Kostümen angenähert (beides: Hana Ramujkić). Musikalisch hat Kalitzke die Themen der Entfremdung, der Identitätssuche, des Außenseitertums und der Figurendopplung aufgegriffen. Alltagsgeräusche, wie etwa das Ziehen von Schubladen, werden bei ihm elektronisch verformt. Das Akkordeon diente Kalitzke als Ersatz für die Orgel, während der Kontrabassklarinette als Instrument mit dem größten Umfang die Aufgabe zufiel, den Zustand von Spannung und Entspannung in Schwebe zu halten. Ein Sampler, bei dem 3-400 Anschläge zu triggern waren, diente weiters als Ersatz für ein 2. Orchester. Bei den 88 Tasten des Samplers kann jede Taste mit einem eigenen Klang belegt werden und durch solche vorproduzierten Klänge werden bei Kalitzke Brücken zum Kammerorchester geschlagen. Das Sängerensemble musste auch in der Lage sein, multiphonic, das beißt mit Ober- bzw. Unterton zu singen. Der berühmte Bachchoral „O Haupt voll Blut und Wunden, BWV 244, wird gleich zu Beginn angestimmt und Kinderlieder dienten Kalitzke als Melismen. Das Orchester wies noch eine Besonderheit auf. Nämlich die von der Viola Spielerin Anna Dekan auch zum Einsatz gebrachte „Strohgeige“, die 1899 in London von Johannes Matthias Augustus Stroh (1828-1914) entwickelt wurde, die ohne Resonanzkörper auskommt. Der Schall entweicht bei ihr aus einem Metalltrichter. Kalitzke verzichtete in seiner Partitur auf Violinen, stattdessen gelangten neben der bereits genannten Viola und Strohgeige, noch ein Violoncello, eine Klarinette in B, eine Bass- und Kontrabassklarinette, ein Kontrabass, Posaune, E-Gitarre und doppeltes Schlagwerk zum Einsatz. Die beiden Puppen wurden von Claudia Six entworfen und von Andrea Köhler, Melanie Möhrl und André Reitter auf der Bühne bedient. Norbert Chmel steuerte noch ein spannendes, Atmosphäre gebendes Lichtdesign bei. Höchst gefordert waren die Sänger.

(c) Armin Bardel

Allen voran der amerikanische Countertenor Ray Chenez als charismatischer Ich-Erzähler mit bewundernswerter Ausdruckskraft. Er ist in die sechs Jahre ältere Eva-Lisa, die von einem Jungen aus dem Dorf geschwängert wurde, verliebt und zerbricht an dieser Liebe. Dicht gefolgt wird er von der polnischen Koloratursopranistin Ewelina Jurga als Johannes, die ihn nach dem Rücktausch mehrmals als Verräter bezeichnet und im Kampf mit Ich stirbt. Die beiden Mütterrollen, die kaltherzige Josefina Marklund und die psychisch kranke Alfild Hedman, wurden von der russischen Mezzosopranistin Elena Suvorova verkörpert, wobei ihr die verwirrte Alfild, die schlussendlich in der Psychiatrie stirbt, darstellerisch besonders viel abverlangte. Der Tiroler Bariton Wolfgang Resch glänzte stimmlich und darstellerisch als der eine, noch existierende Familienvater und autoritärer Ehegatte Sven Hedmann sowie als gravitätischer Pastor. Die japanische Sopranistin Misaki Morine gab die Pflegetochter Eva-Lisa, die ungewollt schwanger wird und nach einer Fehlgeburt stirbt sowie die Tante. In der stummen Rolle des Erinnernden ergänzte der in Zagreb geborene Andrija Repec. Walter Kobéra führte das amadeus ensemble-wien durch die vielschichtige, komplizierte Partitur von Kalitzke mit Ausdauer und vollem körperlichen Einsatz. Der Vollständigkeit sei noch gesagt, dass es auch eine ausschließlich für Marionetten komponierte Oper gibt, nämlich die Puppenoper Opera Ashura von Behzad Abdi (9.4.1973*) mit 72 Puppen in 72 Minuten (https://www.youtube.com/watch?v=HEiF7nlinBo&ab_channel=BehzadAbdi). Ich muss gestehen, dass dieser Abend äußerst fordernd war, weniger die orchestralen Passagen als die bisweilen stiefmütterlich behandelten weiblichen Stimmen, die an die Schmerzgrenze gingen. Am Ende gab es stürmischen Beifall und auch einige Bravo-Rufe, die wohl von Angehörigen der Mitwirkenden als unbezahlte Claqueure ausgingen.

Harald Lacina, 13. April 2023


Neue Oper Wien

Kapitän Nemos Bibliothek

Johannes Kalitzke

Besuchte Wiener Premiere: 11. April 2023

Regisseur: Simon Meusburger

Dirigent: Walter Kobéra

amadeus ensemble