Frankfurt: „The Medium“, Gian Carlo Menotti

ergänzt um Chöre von Schubert und Brahms sowie die TRAUERMUSIK von Lutoslawski

Besuchte Vorstellung: 17. September 2020

(Premiere von The Medium im Bockenheimer Depot am 15. Juni 2019)

Not macht erfinderisch

Die neue Saison an der Oper Frankfurt sollte mit einem Paukenschlag beginnen: Ligetis schrill-bunte Anti-Anti-Oper Le Grand Macabre stand als Eröffnungspremiere auf dem Spielplan. Diesen Kraftakt konnte man unter Corona-Einschränkungen nicht realisieren. Schon der erzwungene Abstand zwischen den Musikern im Orchestergraben machte eine Aufführung dieses Werkes mit seiner riesenhaften Besetzung unmöglich. Also mußte kurzfristiger Ersatz her. Den fand man im eigenen Repertoire mit der Kurzoper The Medium des italo-amerikanischen Komponisten Gian Carlo Menotti aus dem Jahr 1946. Das selten gespielte Werk war zum Ende der vorletzten Spielzeit im Doppelpack mit Bruno Madernas Satyricon im Bockenheimer Depot herausgebracht worden. Eine Wiederaufnahme war nicht vorgesehen. Daß diese Produktion einen zweiten Blick lohnt, ja daß Menottis Gruselgeschichte von Madernas Zirkus-Firlefanz befreit erst angemessen zur Geltung kommt, kann man jetzt auf der Bühne des Großen Hauses erleben.

Menotti hielt zeitlebens nichts von den neutönerischen Experimenten seiner komponierenden Zeitgenossen, sondern blieb wie sein Lebensgefährte Samuel Barber der tradierten Tonalität verpflichtet, die er harmonisch anschärfte und bei Bedarf erweiterte. Das traf den konservativen amerikanischen Zeitgeschmack. The Medium wurde sogar unter der Regie des Komponisten selbst bereits zwei Jahre nach der Uraufführung verfilmt (auf Youtube verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=Ni6Ugouya0o). Tatsächlich fühlt man sich immer wieder an Filmmusiken etwa eines Bernard Herrmann erinnert.

Der Plot handelt von einer Scharlatanin, die Leichtgläubigen in Séancen mit allerhand Budenzauber vorgaukelt, mit Verstorbenen in Kontakt zu stehen. Ihre Tochter und ein stummer Waisenjunge gehen ihr dabei zur Hand. Doch der vorgegaukelte Spuk scheint sich selbständig zu machen. Das Medium sieht sich von Geistern verfolgt. Was als Komödie begonnen hat, endet mit einem tragischen Tod.

Kaspar Glarner hat dazu ein Bühnenbild entworfen, welches nach dem Vorbild der Filmkulisse detailverliebt einen plüschig ausgestatteten und etwas heruntergekommenen Salon zeigt. Die Regie von Hans Walter Richter entfaltet darin ein handwerklich sauber inszeniertes, dichtes Kammerspiel, welches auf die darstellerischen Stärken einer ausgezeichneten Besetzung bauen kann. Claire Barnett-Jones als Madame Flora, das titelgebende Medium, steht ihrer Rollenvorgängerin Meredith Arwady in nichts nach und dominiert mit einer starken Präsenz geradezu die Bühne. Sie hat sich die Figur mit Haut und Haaren einverleibt. Sie chargiert in der Séance, daß es eine Freude ist und zeichnet den Weg von aufkeimender Furcht hin zu einem panischen, tödlichen Gewaltausbruch mit unablässiger Intensität. Ihren volltönenden Alt stellt sie in den Dienst der Darstellung und scheut dabei auch keine ordinären Töne. Im stimmlichen Kontrast dazu steht Angela Vallone, die in der Rolle der Monica, der Tochter des falschen Mediums, mit Gloria Rehm alterniert. Mit ihrem runden, jugendlichen Sopran darf sie die fast ein wenig zu nostalgisch-schönen Melodieerfindungen des Komponisten auskosten. Wie schon in der ursprünglichen Produktion überzeugt die junge Mezzosopranistin Kelsey Lauritano in der kleinen Nebenrolle der Mrs. Nolan. Barbara Zechmeister und Dietrich Volle als geistergläubiges Ehepaar runden wie schon in der Bockenheimer Premiere die ausgezeichnete Sängerbesetzung ab. Besonderen Eindruck macht erneut der junge Schauspieler Marek Löcker, welcher der stummen Rolle des Toby große Eindringlichkeit verleiht und diese zur zentralen Figur aufwertet.

Das Orchester in Kammerbesetzung badet unter der Leitung von Generalmusikdirektor Sebastian Weigle im süffigen, mitunter filmmusikhaften Sound.

Um den Abend zu der gewohnten Aufführungslänge von zwei Stunden zu weiten, werden drei konzertante Einheiten vorgeschaltet: Zunächst präsentieren die Männer des Opernchores den Gesang der Geister über den Wassern von Franz Schubert, dann die Chordamen die Vier Gesänge von Johannes Brahms und schließlich die Streicher des Orchesters die Trauermusik von Witold Lutoslawski. Natürlich stand bei dieser Programmgestaltung pragmatisch der Wunsch im Vordergrund, eine angemessene Beschäftigung für die festangestellten Hauskräfte zu finden. Dazu hat eine kluge Dramaturgie Chorwerke mit Texten gefunden, die zu dem Hauptwerk des Abends in einer inhaltlichen Beziehung stehen, einzelne Motive des Kommenden vorwegnehmen, deuten oder transzendieren.

So öffnet sich zu Beginn der Vorhang und gibt den Blick frei auf die schachbrettartig angeordneten Herren des Chores im Frack und mit schwarzer Atemschutzmaske. Synchron klappen sie ihre Notenmappen auf und präsentieren zu Streicherbegleitung ein Chorwerk, das zu den ambitioniertesten Schöpfungen Schuberts gezählt wird, bei zehn Minuten Aufführungsdauer aber gewisse Längen aufweist.

Eine reizvollere und musikalisch dankbarere Aufgabe haben anschließend die Chordamen. Dazu trägt bereits die ungewöhnliche Begleitung der Vier Gesänge von Johannes Brahms mit zwei Hörnern und Harfe bei. Gerade im zweiten der Gesänge – Shakespeares Come away, death in der deutschen Schlegel-Übersetzung – wird der Todeswunsch aus verschmähter Liebe thematisiert, der in der nachfolgenden Operninszenierung eine wesentliche Deutungszutat des Regisseurs sein wird.

Wenn der Vorhang ein drittes Mal aufgeht, haben sich die Streicher des Orchesters auf der leeren Bühne postiert. Sebastian Weigle führt sie konzentriert durch die Trauermusik von Witold Lutoslawski. Weigle entgeht der Gefahr, die Strenge der Komposition durch Sentimentalität oder dramatische Überhitzung zu unterlaufen. Er präsentiert das Werk klar strukturiert und arbeitet mit seinen Musikern den Ton herber Trauer adäquat heraus. In einem gewöhnlichen Konzert hätten Teile des Publikums sich der Herausforderung eines solchen Stückes entzogen, was regelmäßig zu Unruhe im Zuschauerraum führt. Hier aber in corona-bedingter Vereinzelung und nach Monaten des Musikentzugs scheinen die Zuhörer aufnahmebereiter oder jedenfalls disziplinierter zu sein. Die aufmerksame Stille im Publikum ist so vollkommen, daß man beim zweiten Abschnitt – Metamorphosen – zum leisen Beginn mit dem Pizzicato der tiefen Streicher sehr deutlich das Rauschen der Klimaanlage vernimmt. In Corona-Zeiten ein beruhigendes Geräusch: die Raumluft wird ausgetauscht!

Wenn schließlich der Vorhang nach der abschließenden Kurzoper von Menotti gefallen ist, hat man einen kontrastreichen und anregenden Opernabend erlebt. Die Chorwerke haben literarische Horizonte eröffnet, und Lutoslawskis zwölftönige Strenge hat das Gehör geschärft. Vielleicht liegt es auch daran, daß man nun, anders als bei der Premiere 2019, in Menottis Oper mehr als ein süffig komponiertes Schauerstück erkennen kann. Die Wiederbegegnung hat sich gelohnt.

Michael Demel, 1. Oktober 2020

(c) der Bilder (zum Teil mit Alternativbesetzung): Barbara Aumüller

Video mit Werkeinführung