Vorstellung am 11.04.2021
Die Muse bringt es am Ende der Oper LES CONTES D’HOFFMANN auf den Punkt: „On est grand par l’amour et plus grand par les pleurs!“ Aus solchen Gefühlslagen entstanden und entstehen Meisterwerke – und an einem der bekanntesten Künstlerdramen liess uns das Opernhaus Zürich gestern Abend teilhaben, liess uns weinen, lachen, berührte und begeisterte mit einem Live-Stream der Premiere von Offenbachs grandioser Oper. Unterdessen sind die Umstände dieser Live-Streams in Corona Zeiten hinlänglich bekannt. Das Opernhaus Zürich verfügt über ein einmaliges und technisch höchst ausgereiftes Schutzkonzept für alle Mitwirkenden, indem es per Glasfaserkabel das Ocrchester und den Chor aus dem Probesaal vom Kreuzplatz her ins Haus am Sechseläutenplatz überträgt, auf und hinter der Bühne die Mitarbeiter regelmässig testet, geschlossene Gruppen bildet (z.B. die herausragenden zwanzig Statisten, welche auf der Bühne – mit Masken – die Studenten darstellen). Ein Konzept, das meiner Meinung nach (aber mich fragt ja keiner) durchaus auch Publikum im Saal zulassen würde, was leider aber behördlich untersagt ist. Wie dem auch sei, dem Fluch, der seit dem verheerenden Theaterbrand in Wien über dem Werk liegt, trotzte das Opernhaus Zürich diesmal erfolgreich und hielt ein beeindruckendes Plädoyer für die Kunst.
Der Intendant des Opernhauses Zürich, Andreas Homoki, hat in der fantastischen Ausstattung von Wolfgang Gussmann (Bühne und Kostüme, an denen auch Susana Mendoza mitarbeitete) eine wunderbar genaue Inszenierung geschaffen, in welcher sowohl das Skurrile, die Schauerromantik, die Groteske als auch die Emotionalität, die ungestüme Triebhaftigkeit und das Berührende ihren Platz fanden, den Zuschauer von Beginn weg in ihren Bann zog. Eine Inszenierung, die geprägt ist von Stimmigkeit, Respekt gegenüber dem Werk und ideal den inneren Gehalt zwischen Autoren und Publikum vermittelt. Am Bildschirm wurde dies alles noch betont durch die hervorragende TV-Regie des bekannten Film-, TV- und Theaterregisseurs Andreas Morell, welcher das Auge des Zuschauers ganz gezielt auf wichtige Details zu führen wusste.
Musikalisch war der Abend ebenfalls geprägt von einer in sich überaus stimmigen Besetzung: Die mörderische Titelpartie wurde von Saimir Pirgu (Rollendebut!) mit Eleganz, Leidenschaft, seelischer und physischer Gebrochenheit und tenoraler Strahlkraft vom Feinsten verkörpert, er verlieh dem Hoffmann eine bewegende Glaubwürdigkeit und hielt die Partie von der Erzählung des Klein-Zach im ersten bis zum Zusammenbruch und der darauffolgenden Apoteose im fünften Akt mit nie nachlassender Spannkraft durch. Obwohl die vier Frauengestalen – die vier grossen Liebschaften des Hoffmann – verschiedene Facetten seiner letzten Liebe, Stella, darstellen, sind sie von Offenbach für ganz unterschiedliche Stimmtypen geschrieben worden und es ist ganz selten geschehen, dass sie von einer einzigen Sängerin gesungen werden – oft mit Kompromissen an den geforderten stimmlichen Klang. Auch in Zürich hat man sich für eine Aufteilung auf vier Sängerinnen entschieden. Gut so, denn mit der mit bestechenden Koroaturen und Fiorituren aufwartenden Katrina Galka hat man eine stupende Interpretin der Puppe Olympia gefunden. Welch famoses, augenzwinkerndes Spiel, welch messerscharfe Spitzentöne! Ganz anders geartet der lyrische Sopran von Ekaterina Bakanova als Antonia: anrührend, mit weicher, wunderschöner Intonation, sich im Gänsehaut-Terzett (mit Judith Schmid als eindrückliche Stimme der toten Mutter) mit fiebriger Ekstase in den Tod singend. An diesem Tod war der Bösewicht der Oper schuld, der in den Rahmenakten Lindorf heisst und in den Mittelakten Coppélius, le docteur Miracle und le capitaine Dapertutto. Andrew Foster-Williams bringt dabei das mephistophelische der Figur mit schauerlicher Boshaftigkeit und hinterhältigem Charme ganz herrlich zum Ausdruck. Lauren Fagan spielt und singt eine treffliche Kurtisane Giulietta, eine Rolle, die oft mit Mezzospranistinnen mit erotischem Timbre besetzt wird, hier nun von einem eher leichten Sopran gesungen wird. Iain Milne (Spalanzani), Wieland Satter (sich um seine Tochter Antonia sorgender Crespel) und Thomas Erlank als Schlémil ergänzen das hochkarätige Ensemble untadelig. Spencer Lang liefert einmal mehr den Beweis seiner darstellerischen und stimmlichen Vielseitigkeit mit der Verkörperung der vier Diener Andrès, Chochenille, Frantz und Pitichinaccio.
AmPult der Philharmonia Zürich waltete Antonino Fogliani, der fein ziselierte Effekte aus Offenbachs Partitur kitzelte, wunderbare, kammermusikalische Transparenz erklingen liess und den Sängerinnen und Sängern sowie dem Chor (Einstudierung: Janko Kastelic) ein solides Fundament baute.
Nachdem sich die emanzipierte Stella (wunderbar divenmässig: Erica Petrocelli) den geifernden Lindorf zeimlich handfest vom Hals geschafft hatte, stimmte die grossartige Mezzosopranistin Alexandra Kadurina, welche als Muse/Nicklausse den ganzen Abend hindurch mit ihrer satten, kangschönen Stimme begeistert hatte, zur Apoteose an: „Des cendres de ton cœur réchauffe ton génie. Dans la sérénité souris à tes douleurs, La Muse apaisera ta souffrance bénie!“
Möge es uns allen beschert sein, aus der – auch kulturellen – Dunkelheit der Pandemie wieder von der Muse direkt geküsst zu werden und nicht bloss am Bildschirm!
Kaspar Sannemann, 4.5.2021