Hamburg, Ballett: „Jane Eyre“, Cathy Marston

Die international renommierte britische Choreografin Cathy Marston ist auch in Deutschland keine Unbekannte, wurde ihr biografisches Ballett The Cellist doch aus dem Royal Opera House London auch in die deutschen Kinos übertragen. 2016 gelangte beim Northern Ballet ihr Stück Jane Eyre nach dem berühmten Roman von Charlotte Brontë zur Uraufführung. Der große Erfolg weckte auch das Interesse amerikanischer Compagnien: 2019 erfolgten die Premieren beim ABT New York und beim Joffrey Ballet Chicago. Es ist dem Intendanten des Hamburg Ballett John Neumeier hoch anzurechnen, die seit kurzem als Direktorin des Balletts Zürich amtierende Choreografin eingeladen zu haben, ihre Kreation mit dem Hamburger Ensemble als deutsche Erstaufführung zu erarbeiten. Die enthusiastisch aufgenommene Premiere am 3. Dezember 2023 bestätigte, dass das Hamburger Publikum bei aller Verehrung für John Neumeier auch für andere choreografische Handschriften offen ist.

(c) Kiran West

Das Werk reiht sich würdig ein in die großen literarischen Handlungsballette eines John Cranko (Onegin), Kenneth McMillan (Manon) und natürlich Neumeier selbst (Die Kameliendame, Endstation Sehnsucht, Die Glasmenagerie). Die Choreografin hält sich in ihren szenischen Bildern nahe an die Romanvorlage, erzählt stringent die Geschichte von Jane, die als Waise bei einer Tante aufwächst, in ein Mädchen-Internat geht, wo sie sich mit einer Insassin anfreundet, und dann Gouvernante in einem Herrenhaus in Thornfield wird. Dort lernt sie in ihrem Arbeitgeber Edward Rochester die große Liebe ihres Lebens kennen. Beider Hochzeit wird vereitelt durch eine Frau namens Bertha Mason, die sich als rechtmäßige Ehefrau Rochesters ausgibt. Die verzweifelte Jane wird von Pfarrer St. John Rivers aufgenommen, der sie heiraten will. Doch sie geht zurück nach Thornfield, wo sie den inzwischen erblindeten Rochester wieder trifft, der ihr Lebensmensch bleiben wird.

Der Komponist Philip Feeney hat als musikalische Folie eine Collage aus eigenen Werken sowie Kammermusik von Mendelssohn Bartholdy, Schubert und Fanny Hensel in Bearbeitungen erstellt, welche das Geschehen atmosphärisch ausmalt. Nathan Brock setzte diese Vorlage mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg stimmig um. Patrick Kinmonth’ Ausstattung von grafischem Zuschnitt ist sparsam, die Bühne gar düster und von David Finn fast durchweg dämmrig beleuchtet. Schon der Vorhang zeigt einen schwer verhangenen Himmel über einer Erdhalbkugel. Auf der Szene gibt es nur wenig Mobiliar – einen Stuhl, einen Sessel, ein paar Hocker auf einer hinteren, erhöhten Ebene. Die Kostüme sind vorwiegend streng und schmucklos.

(c) Kiran West

Jane trägt wechselnde Kleider in Weiß und Braun mit Kornblumen-Dekor, die Internatsschülerinnen treten in blauer Einheitskleidung auf, ein Blickfang ist die elegante Robe der schönen Blanche in Altrosa bei einer Abendgesellschaft. Eine von Marston erdachte Besonderheit ist die elfköpfige Gruppe der D-Men in grauen Anzügen, die schon im Prolog auftritt, wo sie Jane verfolgt, behindert und ins Stürzen bringt. Auch später erscheint sie immer wieder in Janes Phantasie als personifizierte Vertreter für Death und Demon. Hier setzt die Choreografin erste Höhepunkte mit einem ungemein kraftvollen, sportiven Gestus mit anspruchsvollen Figuren und Sprüngen.

Eine Garde Erster Solisten verhilft der Kreation zum Erfolg, angeführt von Ida Praetorius in der Titelrolle. Sie ist zart und verletzlich, aber auch selbstbewusst, hat ihre erste starke Szene mit Helen Burns (Greta Jörgens mit großem Liebreiz), mit der sie sich im Internat innig anfreundet. Von großer Dramatik ist ihre Begegnung mit Edward Rochester, den sie aus einem brennenden Bett rettet. Aus anfänglich verhaltener Annäherung wird leidenschaftliche Zuwendung. In Karen Azatyan hat Praetorius einen idealen Partner – er ist von geheimnisvoll faszinierender Aura, sinnlich, leidenschaftlich und absolut glaubwürdig in seiner Verzweiflung, wenn die geplante Hochzeit mit Jane scheitert. Rochester und Jane haben noch mehrere Tanzduette, welche die Höhepunkte der Choreografie markieren. So gibt es zu Beginn des 2. Aktes bei einer Abendgesellschaft den Auftritt der mondänen Blanche, die Anna Laudere mit eleganter, aufreizender Allüre gibt und sofort alle Blicke auf sich zieht. Auch Rochester kann sich ihr nicht entziehen, was Janes Unmut hervorruft und zu einem erregten Pas de deux mit aggressiven Hebe- und Schleuderfiguren führt. Von großer Spannung erfüllt ist die Hochzeitsszene, wenn Bertha Mason das Ritual stört. Ida Stempelmann hat einen furiosen Auftritt von geradezu animalischer Wildheit nahe dem Wahnsinn, was wiederum ein Solo Rochesters von leidenschaftlicher Verzweiflung mit fulminanten Sprüngen auslöst. Schließlich ist sein und Janes Wiederfinden am Ende eine berührende Szene, weil sie alle seine Zweifel zerstreut und ihn stärkt im Glauben an eine gemeinsame Zukunft.

(c) Kiran West

Weitere starke Einzelleistungen tragen den Abend, so von Matias Oberlin, der den Kanon seiner zwielichtig schillernden Figuren um die des Mr Brocklehurst erweiterte, eines strengen Pfarrers im Internat mit wilden Sprüngen und gefährlicher Attacke, oder Silvia Azzoni als Haushälterin in Thornfield Mrs Fairfax mit aufgeregt trippelnden Schritten oder Larmaigne Bockmühl als ihrer Schülerin Adèle Varens in heiterer Ausgelassenheit. Sie alle haben ihrer Compagnie mit dieser Kirian-West-Interpretation ein Ruhmesblatt geschrieben.

Bernd Hoppe 5. Dezember 2023


Jane Eyre
Cathy Marston

Hamburg Ballett

Premiere am 3. Dezember 2023

Choreografie: Cathy Marston
Musikalische Leitung: Nathan Brock
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg