Dresden: „Don Carlo“ im dritten Anlauf

Aufführung am 22.10.2021

Vera Nemirova bringt ihre 2020 verhinderte Osterfestspiel-Inszenierung nach Dresden

Sieben Versionen hat Guiseppe Verdi von seinem „Don Carlo“ geschrieben. Zum Teil belanglose Änderungen begleiteten den die historischen Gegebenheiten sehr freie folgenden Roman von César Vichard de Saint-Réal seit 1673 und die daraus entstandene TextvorlageFriedrich Schillers von 1787, das dramatische Gedicht „Dom Karlos, Infant von Spanien“, bis zur in Dresden vorgestellten italienischen Fassung von 1884 mit einem Vorspiel von Manfred Trojan.

Wechselvoll ist aber auch die Geschichte der Inszenierung von Vera Nemirova: bereits im April 2019 erfolgten Bühnenproben der Entwürfe von Heike Scheele im Großen Festspielhaus in Salzburg, da die Inszenierung als Kernstück der Osterfestspiele 2020 unter der Musikalischen Leitung von Christian Thielemann vorgesehen war. Wurden die Festspiele ein Opfer der Corona-Pandemie, so sollte an der geplanten Übernahme der Inszenierung, allerdings mit dem Rollendebüt von Anna Netrebko als Elisabeth de Valois und der Musikalischen Leitung Thielemanns an der Semperoper festgehalten werden.

Folglich begannen im Frühjahr 2020 auch die Proben mit Anna. Als auch Corona-bedingt die Premiere am 23. Mai 2020 nicht stattfinden konnte, stellte der Komponist und Solorepetitor des Hauses Johannes Wulff-Woesten eine kammermusikalische Fassung von Höhepunkten der Oper zusammen und brachte diese im Juni 2020 mit Anna Netrebko, Elena Maximova, Yusif Eyvazov sowie Mitgliedern des Hausensembles mit großem Erfolg zur Aufführung.

In der Zeit des Probenbeginns des dritten Anlaufs war dann noch die Mutter und künstlerische Beraterin der Regisseurin, die Opernsängerin und Gesangspädagogin Sonja Nemirova (1942-2021), verstorben.

Da bereits de Saint-Réal und Schiller recht frei mit den historischen Gegebenheiten der Zeit um 1560 umgegangen sind, sei es der gebürtigen Bulgarin Nemirova nachgesehen, dass ihre Inszenierung mit dem Sujet von Joseph Méry und Camille du Locle nicht zimperlich verfährt, um ihr Anliegen den Dresdner Besuchern zu vermitteln.

In der aufgeführten Fassung der Oper fehlen bekanntlich die Szenen im Wald von Fontainebleau mit der ersten Inkognito-Begegnung des Don Carlo mit Elisabeth. An dessen Stelle erlebten wir die Uraufführung eines orchestralen Prologs von Manfred Trojan (*1949), der moderne Musik im Verdischen Sinne komponierte. In einem stilisierten „Wald von Fontainebleau“ treffen die Beiden als die 14-jährigen in einer Tanzszene aufeinander, verlieben sich und werden auseinandergerissen. Das bietet einen eigenständigen aber durchaus schlüssigen Auftakt des Abends.

Für die folgenden Abläufe hat Heike Scheele eine gewaltige und prachtvolle Bibliothek des Klosters von San Yuste, jenes Rückzugsorts des amtsmüden Karl V., gemäß der Zeit um 1560 entstehen lassen.

Der ob der Unregierbarkeit der Welt verzweifelte Kaiser war zwar 1558 verstorben, die Bibliothek blieb aber mit ihren 5200 Büchern als Zentrum der Hortung vom Wissen der Zeit ein Machtzentrum.

Die Handlung führte uns in die revolutionäre Zeit des Übergangs von den ausschließlichen Abschriften der Mönche zum im Vielfachen verfügbaren Gedruckten. Denn damit war nicht nur Wissen breiter verfügbar, sondern auch unerwünschtes, verbotenes Gedankengut zunehmend zugänglich.

Den Umgang der Mächtigen mit verbotenem und staatlich legitimiertem Wissen bis in unsere Tage machte Vera Nemirova zum Kernpunkt ihrer Inszenierung. Die Bibliothek blieb deshalb auch omnipräsent. Selbst als die Prinzessin Eboli die Hofdamen bespaßte, schaute die Bücherwand bedrohlich über die Abtrennung. Der zweite Akt war in die leergeräumte Bibliothek, allerdings vor den Bücherwänden, verortet.

Selbst der gefangene Carlo empfängt Posa vor allerdings leergeräumten Bücherregalen, aus denen heraus dann der Marquis Posa folgerichtig erschossen wird.

Zuvor ist aber noch das große Autodafé zu absolvieren: hier kippt die Inszenierung wieder in die Unsitte des Regietheaters, indem uns politisch Mitdenkenden begreiflich gemacht werden muss, dass bestimmte Entwicklungen nicht nur im 16. Jahrhundert, sondern auch in Zeitnähe ablaufen. Die Bühne verschiebt uns in die Zeit der dreißiger des letzten Jahrhunderts und wir erleben die Machtergreifung einer totalitären Bewegung, die in eine optisch sehenswerte Bücherverbrennung mündete. Prachtvoll inszeniert, aber wer benötigt diesen Nachhilfeunterricht.

Als Verbindung zum Folgenden war als Zwischenspiel eine zweite Komposition Manfred Trojans, „ Mendelssohns Möwen- ein Lied ohne Worte für Violoncello solo“, von Norbert Anger berührend gespielt und von den Tänzern Malwina Stepien sowie Briab Scalini angedeutet, dass da noch nichts entschieden ist.

In der Folge zerfasert die so kompakt begonnene Inszenierung und verliert Struktur.

Die Einbeziehung der Beziehungsgeschichte von Don Carlo und Elisabeth in die Handlung beschränkte sich folglich auf die Duette der Liebenden, die Intrigen bzw. die Läuterung der Prinzessin Eboli und die Auseinandersetzungen mit dem Großinquisitor. Die Umstände der gestohlenen Schmuck-Schatulle machen deutlich, dass nur noch die Geschichte einer zerrütteten Ehe erzählt wird, die im Finale für Elisabeth und Carlo in ein Happy End führt.

Zumindest deutet das der dritte Auftritt der beiden Tanzenden

Das rebellierende Volk überschwemmt nur kurz die Szene und verschwindet wieder. Sollte das eine Persiflage an die Wendedemonstrationen des Jahres 1989 sein?

Alles zeichnet sich durch eine hervorragende Personenführung aus, lebt aber letztlich vom Gesang.

Die Musiker der Staatskapelle sicherten mit dem Dirigenten Ivan Repušic die hohe musikalische Qualität des Abends. Der aus Kroatien stammende Musikalische Leiter hält eine phantastische Balance zwischen Kammerspiel und großer Oper. Von leidenschaftlichen Ausbrüchen bis zu leisen Passagen mit sprunghaftem Stimmungswechsel war alles dabei. Der weiche geschmeidige Klang des Orchesters beeindruckte im Besonderen in den Massenszenen des von André Kellinghaus blendend vorbebereiteten Chors, unterstützte aber ebenso einfühlsam die Gesangssolisten.

Für den Abend stand eine opulente Riege der Singenden und Spielenden zur Verfügung.

Die aserbaidschanische Sopranistin Dinara Alieva war für die Partie der Elisabetta di Valois nach Dresden gekommen, um mit souveränem Gesang und schauspielerischer Eleganz die Emotionen der zwischenmenschlichen Beziehungen beeindruckend darzustellen. Ihr tief getönter, voluminöser Sopran bot sowohl Durchschlagskraft in den Duetten als auch samtige Weichheit; alles im rechten Maß.

Eine grandiose Besetzung der Prinzessin Eboli war der Einsatz der Moskauerin Anna Smirnova. Ein ungewöhnlich heller und brillant timbrierter Mezzosopran, leichtgängig oder fähig zu frontaler Attacke, eisig kalkulierend aber auch ungepanzerte Wärme offenbarend, war zu bewundern.

Mit dem italienischem Tenor Riccardo Massi stand ein Darsteller mit einer relativ dunkel gefärbten in allen Lagen souverän geführten Stimme, der Gefühle ebenso wie Präsenz zeigen konnte.

Die Sängerdarsteller der beiden Männer, König Philipp und Marquis Posa, sorgten für echte Glanzpunkte der Aufführung: Vitalij Kowaljow ließ seine sonore Bassstimme mit fabelhaft zwingender Autorität und Durchsetzungsfähigkeit strömen, akzeptierte zugleich die Verletzlichkeit des Königs mit dem “Ella giammai m´amò“auf feinfühlige Weise. Als das Geschehen mit diplomatischem Geschick vorantreibender Marquis de Posa verfügte Andrei Bondarenko über den eleganten, kraftvollen Ton mit klaren Akzentuierungen und über die notwendige Würde. Sein Duett mit Riccardo Massi wird in Erinnerung bleiben.

Als weiterer Vertreter der politischen Klasse agierte Alexandros Stavrakakis in der Rolle des Großinquisitors. Mit seinem Bass schenkte er der massiven Figur mit schönem Legato und schwarzen Farben die notwendige Dämonisierung.

Mit der leider kleinen Partie des Pagen Tebaldo erfreuten wir uns an der aufstrebenden Haus-Sopranistin Mariya Taniguchi.

Fast Luxusbesetzungen waren auch der Graf von Lerma, dessen kleiner Part Joseph Dennis kaum Gelegenheit zur Präsentation seiner Möglichkeiten gab, der Mönch vom immer zuverlässigen Tilmann Rönnebeck und der Herold von Simon Esper.

Ebenso kam makellos die berückend schöne warnende Stimme der Ophelya Pogosyan „von oben“.

Beeindruckend auch der berührend und sauber intonierte Gesang der flandrischen Deputierten: Sebastian Wartig, Padraic Rowan, Mateusz Hoedt, Lawson Anderson, Rupert Grössinger und Martin-Jan Nijhof,

Als die junge Elisabetha gefielen die Tänzerin Malwina Stepien und als der junge Don Carlo der Tänzer Brian Scaldini.

Wir erlebten einen musikalisch opulenten Opernabend, der modern und schlüssig auch Probleme unserer Zeit auf die Opernbühne brachte, die gesungenen Texte nicht sonderlich achtete, aber ohne der Partitur Gewalt anzutun.

Bildrechte © Semperoper /Ludwig Olah

Thomas Thielemann 24.10.21