Wien: „Blaubarts Geheimnis“

Premiere: 15. Dezember 2012

Ballett von Stephan Thoss

Das Wiener Staatsballett hat in Manuel Legris einen Chef, der selbst nicht als großer Neuerer bekannt ist. Aber man kann das Neue, das Andere auch einkaufen, und das geschah, als man „Blaubarts Geheimnis“ von Stephan Thoss für das Staatsballett in der Volksoper erwarb. Der Ballettdirektor des Staatstheaters Wiesbaden hat diese seine Choreographie im Februar 2011 zur Uraufführung gebracht. Mit ihm kam der Dirigent des Abends nach Wien, und dem Programmheft entnimmt man, dass seine Wiesbadener Hauptdarsteller an der Einstudierung hilfreich beteiligt waren.

Man sieht von Anfang an, warum: Stephan Thoss hat eine ganz eigentümliche, nach kurzer Zeit unverwechselbare Körpersprache entwickelt, die den Tänzern Ungewöhnliches abfordert. Die Bewegungsabläufe sind durchwegs extrem, sie sind skurril und grotesk, mit verzerrten Wirkungen. Weit ausgreifendes Schlenkern von Armen und Beinen, immer wieder totales Zusammenkippen der Körper erweckt den Eindruck, als stünden Marionetten auf der Bühne. Das ergibt einen interessanten Verfremdungseffekt. Er hat nur wie alle extremen Stilmittel, die konsequent durchgezogen werden, einen Fehler: Man kennt sie nach kurzer Zeit, und sie werden einförmig.

Thoss hat das „Blaubart“-Thema nicht auf abendfüllend aufblasen können. So gibt er dem Hauptstück ein Vorspiel bei, „Präludien“ genannt, zu Musik des hierzulande kaum bekannten polnischen Komponisten Henryk Górecki. Dieser erste Teil hat keine „Handlung“ im engeren Sinn, es sind irreale Beziehungsgeschichten zu seltsamen Bewegungsabläufen in einem absurden Raum, und so exzessiv die Verbiegungen auch sind, so erweisen sich die ersten 35 Minuten als eher unspannend.

Nach der Pause geht es dann um Blaubart selbst, aber nicht nur in Bezug auf Judith, sondern auch – ist das des Abends sensationelles Geheimnis? – in Bezug auf seine Mutter: Die erscheint enorm stark in ihrem Kampf um den Sohn, der solcherart immer wieder zwischen zwei Frauen steht. Thoss gibt ihm noch ein Alter Ego, das sich mit den früheren Frauen befasst (viele Auseinandersetzungen sind da von Sex und Gewalt geprägt). Aber nach und nach werden die 45 Minuten, die dem Zuschauer nicht so kurz vorkommen, wie sie objektiv sind, auch unübersichtlich, wenn dann weitere Doppelgänger des Helden und auch der Mutter auftauchen und man im Endeffekt eigentlich kaum mehr begreift, was da eigentlich erzählt wird…

War man anfangs dankbar, dass Thoss hier auch als sein eigener Ausstatter (Gegenwartskostüme) mit variablen Wänden doch etwas Bewegung auf die Bühne brachte, so nutzt sich das auch ab und wird nicht immer sinnfällig.

Tatsache ist, dass der zweite Teil dennoch wesentlich stärker wirkt, und dies vor allem, weil hier Musik von Philip Glass verwendet wird, die in ihrem immanenten Sog ein Geschehen überzeugend vor sich hintreibt (vielleicht hätte man auch den ersten Teil zu Glass-Musik gestalten sollen, schon um ihn mehr an das zweite Stück anzubinden). Das Volksopernorchester spielt vor allem Glass unter dem Dirigat von Wolfgang Ott so vorzüglich, dass man immer wieder aufhorcht.

Kirill Kourlaev ist Blaubart, ein kraftvoller Tänzer, der den problematischen Helden mit allen Verrenkungen auf die Bühne stellt, wenngleich sein Alter Ego Andrey Kaydanovskiy fast noch geschmeidiger im Schlenkern der Gliedmaßen erscheint. Alice Firenze beeindruckt als liebende, um ihren Mann kämpfende Judith, aber Dagmar Kronberger, die als Mutter oft wie eine tödlich gefährliche Spinne wirkt, hat noch ein paar Effekte mehr. Ein großes Ensemble hatte sich mit Impetus und Erfolg auf die neuen Anforderungen durch Stephan Thoss eingelassen. Der Schlussapplaus klang nach einem ehrlichen Premierenerfolg.

Renate Wagner