Zürich: „Amerika“, Roman Haubenstock-Ramat

Ich lese gerade die Memoiren des großen Musikkritikers und Schriftstellers Hans Heinz Stuckenschmidt (hoch empfehlenswert: Zum Hören geboren, Berlin 1978) und entdecke folgende Sätze: „Ein ganz anderes Amerika als das soeben verlassene sprach uns aus der Uraufführung an, die in  der Deutschen Oper am 10. Oktober durchfiel. Sie hieß Amerika, beruhte auf dem gleichnamigen Romanfragment von Franz Kafka, den ich als Schöpfer eines neuen Idioms schätzen gelernt hatte: Roman Haubenstock-Ramati. Sein Opernversuch scheiterte an dem mangelnden dramatischen Atem einer Musik, die mit allen Sirenen-Glissandos und Schlagzeugorgien, mit Clustern, virtuosem Ziergesang, schönbergischer Sprechstimme und vierkanaligem Tonband Wirkungen nur häufte, ohne sie dramaturgisch zu bändigen. Der Abend endete mit chorischen Buh-Rufen. Es blieb bei der einen Aufführung.“

© Herwig Prammer

Wer das Glück hatte, noch in die letzte Aufführung der „Oper“ zu gehen, die im Opernhaus Zürich, pünktlich zum Kafka-Jahr, eine höchst vitale Wiederauferstehung erlebte, wird sich auf den ersten Blick über den Bericht des Musikkritikers und einstigen Theaterbesuchers wundern, der die umtoste Uraufführung des Werks im Jahre 1966 erlebte. Freilich muss dabei in Rechnung gestellt werden, dass 1. das West-Berliner Publikum nicht unbedingt für seine Toleranz in Sachen Moderne bekannt war; der Autor, aufgewachsen in West-Berlin, weiß, wovon er spricht. Und 2. hatte man anno 66 zwar gute Sänger und Instrumentalisten, zudem noch einen Bruno Maderna am Pult, doch längst nicht die technischen Möglichkeiten, die eine adäquate Aufführung von Amerika möglich gemacht hätten. Der Komponist, der selber wusste, dass er keine „normale“ Oper vorgelegt hatte – „Ich nenne das Oper. Ich weiß nicht, ob Sie das Oper nennen werden“, sagte er 1966 auf einer Pressekonferenz –, hatte ersichtlich ein Stück vorgelegt, das der großen Geschichte der Gattung ein weiteres Teil anfügte, von dem wir heute erst wissen, dass er natürlich auch eine „Oper“ ist, zumindest ein audiovisuelles Musiktheater, das szenisch-musikalisch voll „funktioniert“.

Dazu bedarf es freilich einer Regie, die sowohl das Klangliche wie das Optische ineins bringt. Standen der Deutschen Oper Berlin damals nur vier Lautsprecher zur Verfügung, operiert das Opernhaus Zürich unter seinem Klangregisseur Oleg Surgutschow und dem Sounddesigner Raphael Paciorek, die sich während des Schlussapplauses zurecht verbeugen dürfen, mit nicht weniger als 64 Lautsprechern. All das, was der Komponist an changierenden Klängen und wabernden Tontrauben, gezackten Akkordspitzen und liegenden Klangflächen nicht in Form einer herkömmlichen Notenschrift, sondern in einer graphischen Notation mit aleatorischen Möglichkeitsvorschlägen fixiert hat, all das bewegt sich nun, da im Graben ein reales Orchester sitzt und zwei Orchester zugespielt werden, durch den Klangraum des Opernhauses: aus dem dunklen Nichts entstehend, über unsere Köpfe hinweg, aus allen Himmelsrichtungen. Die Macher von 1966 konnten nur davon träumen, die Erfahrungen Karl Rossmanns, Kafkas „Verschollenem“, derart sinnlich durch den Orbit der Deutschen Oper zu schicken. In der neunten „Szene“, Vermutungen über ein dunkles Haus, kommt die musikalisch-akustisch-optische Parallelität zu einem Höhepunkt. Der Videograph Robi Voigt hat für diese zugleich reale wie symbolische, finster-bewegliche Szene, in der allein die Instrumentalisten sprechen, ein hinreißendes Schwarzweiß-Bewegtbild mit aufflackernden, im Dunkel versinkenden und überraschenden Einblicken in so etwas wie Räumen kreiert. Der Sound aber macht die Erfahrung des Herumtappens in einem per se unheimlich wirkenden „alten Hauses“ perfekt.

© Herwig Prammer

Wenn Video zum integralen Bestandteil eines Bildes und einer Inszenierung wird, in die sich die Solisten, die Tänzer und die in Echtzeit musizierenden wie eingespielten Musikern und Musikerinnen wie selbstverständlich eingliedern, kann man von einem „Gesamtkunstwerk“ reden, angesichts dessen die Frage, ob Haubenstock-Ramatis Musik (ästhetischer Stand: Avantgarde der frühen 60er Jahre) „mangelnden dramatischen Atem“ besitzt, seltsam unwichtig wird. Man kann sie trotzdem beantworten: Der Komponist hat ein musikdramatisches Kunstwerk hergestellt. Bewiesen wird’s durch die Inszenierung Sebastian Baumgartens, bei der wir gar nicht anders können, als die Nähe des Klangereignisses zu den dramatischen Szenen zu bemerken (nb: was eine „Oper“ ist, entscheidet die Musikgeschichte. In diesem Sinne dürften Monteverdis Geniestreiche im 18. Jahrhundert für die Liebhaber der Opera seria, hätten sie den Orfeo oder den Ulisse gekannt, keine vollgültigen Opern gewesen sein. Noch der Tristan stand ja im 19. Jahrhundert bei den Imbezilen unter den Musikfreunden unter dem Verdacht, völlig „undramatisch“ zu sein). Ohne Kafkas Roman nacherzählen zu wollen, hatte Haubenstock-Ramati mit einigen wenigen Zitaten aus Kafkas Text, auch mit Sprechchören und neuen Texten, die kaum zu verstehen sind, einen Kafka-Extrakt hergestellt, der die literarische Vorlage nicht in eine gängige „Literaturoper“ verwandelte. Stattdessen rekonstruierte er die Unsicherheit, die irgendwann jeden Kafka-Helden befällt, indem er mit seinen Bruchstücken und Simultanszenen, den geheimnisvollen Pantomimen und den Ausschnitten aus der Erzählung einen Durchgang durch Kafkas Eigentliches produzierte, ohne doch die chronologische Reihenfolge der Romanszenen aufzugeben. Wer den Roman kennt und mit dem Libretto vergleicht, dürfte Wesentliches wiedererkennen – ohne dass sich die von Christina Schmitt ausgestatteten Szenen für einen unvorbereiteten Zuschauer zu einem lückenlosen Ganzen verbinden würden.

© Herwig Prammer

Dass die Musik durch zwei Zwölftonreihen und ihre Permutationen strukturiert wird, steht vielleicht (!) auf einem anderen Papier. Die Inszenierung bleibt beim Fragmentarischen wie buchstäblich Aufflackernden und verzichtet auf Simultanszenen. Indem sie Rossmann irgendwo zwischen „Chaplin und Fellini“ (O-Ton Haubenstock-Ramati) aussetzt und mit einem Höchstmaß an Künstlichkeit die Fetzen der Geschichte interpretiert, um ein neues „Amerika“ zu schaffen, ist sie Kafka so nah und so fern wie Haubenstock-Ramati. Die „Einfälle“, die völlig unabhängig von Haubenstock-Ramatis szenischen Anweisungen begegnen, sind nicht willkürlich, sondern Teil der Idee einer Neuinterpretation des Werks im Sinne eines neuen „Amerika“: vom erregten Hetzen über eine steile pyramidale Treppe (beschwert durch ein Gepäckstück das immer nur den Besitzer wechselt), den Auftritt der Freiheitsstatue (mit dem Schwert, nicht der Flamme), einer riesigen Micky Maus mit Krone der Miss Liberty und schließlich einem gespenstischen Reigen von Gestalten („Engel und Teufel“, heißt es im Libretto) der nicht allein US-amerikanischen Unterhaltungsszene in einem „Großen Naturtheater von Oklahoma“, in dem nicht nur Harry Potters Haggit, auch Spejbl und Hurvinek auftreten. Es passt durchaus zur Musik, die über weite Strecken wie ein Soundtrack zu einem intellektuellen Horrorfilm anmutet.

Kommen hinzu die Tänzer und Tänzerinnen, die, von Takao Baba choreografiert, den Abend mit ihrem vom Urban Dance inspirierten Bewegungstheater ausfüllen; nur in einer Szene antworten sie mit einer regelrechten show number auf eine rhythmisch einfache, längere perkussive Passage der Partitur. Nicht, dass nicht gelegentlich zwischen Szene und Bild so etwas wie Micky-Mousing entstehen würde. Nur spürt man,  dass, verglichen mit Amerika, die kurz zuvor uraufgeführten Soldaten des Bernd Alois Zimmermann, strukturell betrachtet, wie eine Opera buffa anmuten – und dass die Trennung der theatralisch-musikalischen Elemente am Ende denn doch zu einem homogenen Ganzen führt.

Wie gesagt: Wenn gute Leute am Werk sind. Bändigt der Dirigent Gabriel Feltz mit mathematischer Präzision das „echte“ und das millimetergenau vermittelte Orchester (mit nicht weniger als sieben Schlagzeugern, mit Bongas, Tamtam und Konga, mit Holzblöcken, Xylorimba und Cencerros, mit Klavier, Celesta, Harmonium und Mandoline) und das Material der musikalischen Realisation (ein Nummernzähler hilft hier ungemein), so werfen sich die Sänger und Sängerinnen mit ungeheurer Verve in die Aufführung. Paul Curievici ist als Rossmann der Primus inter Pares, der sich mit seinen chaplinesken Gesten als traurig-komischer Held durch die Abenteuer dieses Abends arbeitet. Mojca Erdmann ist vor allem die Klara, das grausame Mädchen, das den pierrothaften Rossmann übel und spitzentonmäßig malträtiert; Alison Cooks Rolle ist die der Sängerin Brunelda, die in zwei grandiosen Quasi-Soli ihre zwölftönigen Koloraturen durch den Raum schickt: zunächst in einer sich auflösenden Shownummer, dann in einer Badewannen-Szene von höchster vokaler Präsenz (um es zurückhaltend auszudrücken): eine Parforcetour durch die Gefilde des modernen Gesangs, zudem eine witzige Szene, bei der man sich nicht darüber wundern muss, dass die Diva am Ende von ihrem Geliebten ertränkt wird. Großartig auch Ruben Drole als Onkel Jakob, auch als Oberportier und Direktor: ein Bass mit kräftigem wie genauem dramatischem Ansatz. Robert Pomakov, Georg Festl, Irène Friedli, Benjamin Mathis und Sebastian Zuber: sie spielen die vielen anderen Rollen dieses Werks – auf jenem hohen Niveau, das das Werk benötigt. Die stets eingespielten Sprechchöre kommen nicht aus Zürich, sondern verdanken sich dem Tonmaterial, das 2004 für eine Inszenierung in Bielefeld hergestellt und mit den neuesten technischen Mitteln überarbeitet wurde.

© Herwig Prammer

Die Bielefelder Inszenierung war damals erst die dritte Inszenesetzung nach der Berliner Premiere. Danach konnte noch, mit dem Komponisten als Gast, Amerika 1992 in Graz gebracht werden. Die Züricher Aufführung ist also erst die vierte in einer sechzigjährigen Geschichte. „Das Werk hat die Chance einer Neuinszenierung verdient“, schrieb Sigrid Wiesmann in den 80er Jahren in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Dass es für „große Bühnen kein technisches Problem“ sei, Amerika aufzuführen, mag richtig sein, auch wenn schon der zeitlichen Anspruch der mit jeder Realisierung des Werks verbunden ist, auf viele Häuser abschreckend wirken muss. In Zürich hatte man die Chance, weil durch die Aufrüstung der Tonanlage und die Verschiebung der Produktion auf Nach-Corona-Zeiten die Produktion wesentlich erleichtert wurde. So konnte mit Hilfe eine erstrangigen künstlerisch-technischen Teams bewiesen werden, dass das Werk durchaus eine dramatisch beseelte „Oper“ ist – eben eine moderne aus dem Geist der zweiten Nachkriegszeit, komponiert von einem Musiker, der viel von seinen eigenen zersplitterten Erfahrungen, den Erfahrungen eines Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, in die Partitur hineingab. Der Rest ist „Dunkel“ – und tosender Applaus.

Ich bin sicher, dass Stuckenschmidt, hätte er nach Zürich fahren können, von der die Oper und ihrer adäquaten Realisierung begeistert gewesen wäre.

PS: Durchaus nicht nebenbei: Was Claus Spahn, der Dramaturg des Opernhauses Zürich, zum Stück und seiner Produktion als Programmheft und in den Beiträgen des Züricher Opernmagazins vorgelegt hat, die auch auf der Homepage abgerufen werden können, ist schlicht vorbildlich. Zusammen mit der Ausstellung im Foyer des Opernhauses konnte ein seltenes Werk erläutert und vermittelt werden, in das man sich auch als Zuschauer und -hörer einarbeiten muss, um ihm gerecht zu werden. Chapeau!

Frank Piontek, 15. April 2024


Amerika
Roman Haubenstock-Ramat

Opernhaus Zürich

Premiere: 3. März 2024
Besuchte Aufführung: 13. April 2024

Regie: Sebastian Baumgarten
Musikalische Leitung: Gabriel Feltz
Philharmonia Zürich