Meiningen: „Castor et Pollux“, Jean-Philippe Rameau

Wie überzeugt man drei Künstler, die sich noch nie begegnet sind und unterschiedlicher nicht sein könnten, dazu, eine knapp 300 Jahre alte Oper auf die Bühne zu bringen? Geht das so einfach? Natürlich nicht. Aber Intendant Jens Neundorff von Enzberg weicht schon lange von den Standards vieler Theater ab und gräbt nicht nur vergessene Raritäten aus, sondern lockt auch bildende Künstler, namhafte Regisseurinnen und Dirigenten nach Meiningen. So wird das Haus zu einem lebendigen Musentempel, in dem auch manch langweiliges Werk neue Dimensionen bekommt.

Bildhauer Sir Tony Cragg sah sich vor der Aufgabe, die Dichte und Dynamik dieser Oper zu befeuern. Der rasante Szenenwechsel lässt keine aufwändigen Umbauten zu. Aber großformatige Projektionen seiner Zeichnungen in wechselnden Farben, die an Blattverästelungen, Zweige, Dornen oder Spinnweben erinnern oder Gesteinsschichten und Zellstrukturen unter dem Mikroskop, faszinieren und erzeugen Emotionen. Alles geschieht fließend und passgenau zur Musik. Der Hammer jedoch sind im zweiten Teil die fünf symmetrischen riesigen geometrischen Skulpturen, die organisch gewachsen scheinen. Der Blick verfängt wieder und wieder in den einzelnen Schichten, klettert, erkennt Körperteile, Profile. Damit dies und die Bildproduktionen nicht auf Kosten der Geschichte und ihren Protagonisten Showcharakter erzeugen, hat Co-Bühnenbildnerin Verena Hemmerlein behutsam, aber effektiv vermittelt, korrigiert und letztlich einen wesentlichen Teil des Werks unter ihre Fittiche genommen.

© Chistina Iberl

Christopher Moulds für diese Oper zu gewinnen, ist ein Glücksfall, denn gerade auf dem Gebiet der französischen Barockoper feiert er Erfolge. Esgelingt ihm, die Meininger Hofkapelle zu einer emotionsstarken Interpretation der Inhalte zu führen. Zauberhaft intimen Passagen folgt dramatisches Pathos. Atemlos wechseln die Situationen: Krieg, Trauer, Rachegelüste, Verzweiflung, Auftritt der Götter und Sterne, Liebesszenen und Freude. All das setzt das Orchester wunderbar bildhaft und wirkungsvoll um. Mit Sicherheit hat Rameau die Liebe zu französischer Barockmusik auch in Meiningen geweckt.

Regisseurin Adriana Altaras hat in diesem Trio das Sagen. Hochmotiviert verlegt sie die Handlung unaufdringlich in die Gegenwart, was sich an Kleidung, Accessoires und Gewohnheiten zeigt. Sie lässt schon mal die Leute einen Joint rauchen und das Volk die Handys zücken, drückt Jupiter einen Golfschläger in die Hand. Überdies sieht sie Unsterblichkeit als Last, definiert sie eher als Überforderung, wie es Menschen in Führungspositionen empfinden. Siehe Pollux: Er soll ein Volk regieren, für Frieden sorgen, den Bruder rächen und in der Liebe ist er ein Loser, weil er sich für die Falsche entscheidet. Was passiert, wenn Götter und Sterne auf die Erde kommen? Natürlich beinhaltet der Stoff Tragik, aber bietet genauso viel Potenzial für Komik. Wenn Jupiter, Selcuk Hakan Tıraşoğlu, sichtlich beleibt, der Anzug platzt fast, mit einer herrlich affektierten Escortdame vom Himmel schwebt, lässt er sich vom Grand-Prêtre, Mark Hightower, ankündigen. Und wie genießt dieser im roten Ornat, den Frauen nicht abgeneigt, seinen Auftritt: ein prächtiger Seitenhieb auf manch selbstverliebten Kleriker. Den Chor lässt Altaras nicht nur singen, sondern tanzen und situativ phantastisch spielen: „Die sind einfach großartig und ihnen ist nichts zu doof! Mal sind sie Volk, mal Dämonen, mal Sportler, mal Engel. Das bedeutet natürlich auch viel Kalkül bei den Kostümen, denn bei diesem rasanten Szenenwechsel müssen sie sich ja schnell umziehen können.“

© Chistina Iberl

Der Inhalt der französischen Oper erschließt sich auch ohne deutsche Übertitel schnell. Pollux und Castor sind Halbbrüder. Erster ist unsterblich, da er von Jupiter gezeugt wurde. Als der andere im Kampf fällt, ist seine Geliebte Télaïre untröstlich und fordert den Bruder auf, ihn aus der Unterwelt zurückzuholen. So entsteht der Konflikt: Auch Pollux liebt diese Frau und möchte sie nun gewinnen. Tomasz Wija spielt diese Rolle bewusst starr und emotionsarm, gebeugt unter der Last seiner Verantwortung, während Emma McNairy stark und berechnend auftritt. Auch Phébé, Télaïres Schwester, kämpft um ihr Glück. Sara-Maria Saalmann zeigt Profil und Haltung und steht zu ihren Gefühlen für Pollux. Nun sollen es die Götter richten. Jupiter rauscht zwar vom Himmel, kann aber in Dingen Unterwelt nichts ausrichten, da müsse der Sohn schon selbst hinab, um sich im Tausch für den Bruder zu opfern. Tatsächlich geht er diesen schweren Schritt. Phébé bittet die Dämonen, ihn zurückzuhalten, aber begleitet von Mercure, der geflügelten Götterbotin, Laura Braun, gelangt er in den Hades. Und was bietet sich da für ein Anblick: Im elysischen Resort gleich einer Wellnessoase vertreiben sich Menschen in Bademänteln und Sportkleidung die Zeit: Spielen, Lesen, Abhängen. Wie langweilig kann die Ewigkeit sein. Adriana Altaras ist eh der Meinung, dass in der Hölle die interessanteren Leute zu finden sind. Castor, Aleksey Kursanov, nimmt das Angebot seines Bruders für den Tausch zwar an, will aber nur für einen Tag zurück, um seine Geliebte noch einmal zu sehen. Er wirkt weit unbeschwerter und wird von Mercure auf die Erde geleitet. Das Volk ist begeistert und feiert ihn wie einen Superstar. Phébé aber bringt sich um. Um Castors Rückkehr zu verhindern, fleht Télaïre die Götter um Hilfe an und tatsächlich befreit Jupiter Pollux. Beide Brüder dürfen sich nun die Unsterblichkeit teilen. Engel schweben herbei, die Sterne kommen auf die Erde und Mercure, quirlig und albern, inszeniert eine ausgelassene Party mit Knallbonbon und Torte: Das Fest des Universums. Castor und Pollux werden als Zwillingssterne auf ewig am Nachthimmel leuchten. Selbst für Télaïre ist da noch ein Plätzchen.

Rameau beschränkt sich auf wenige Protagonisten, die weder omnipräsent, noch besonders dominant sind. Es ist der Chor, der in seinen wechselnden Rollen das Geschehen bildhaft darstellt, kommentiert und vorantreibt. Während die Hauptfiguren fast marionettenhaft von den Fäden der Ereignisse bewegt werden, ist er in Aktion und drückt in spektakulären Szenen durch Körpersprache, Mimik und Gesang weit mehr aus. Allein die originellen Kostüme sind bewundernswert. Phantasievolle Kreationen lassen ihn mal als monsterhafte Dämonen, mal als Volk, mal als Trauergemeinde, mal als Engel oder Sternenvolk erscheinen. Chorleiter David Rothenaicher bewies hier mit der Regie und Kostümbildnerin Nina Lepilina viel Geschick, jede Szene so dicht und ausdrucksstark zu gestalten, dass aus dieser Oper ein Glanzstück wurde.

© Chistina Iberl

Das Ensemble des Hauses bewies hohes Niveau. Emma McNairy, Télaïre,überzeugt stimmstark als trauernde und hasserfüllte Frau. Tomasz Wija entspricht in Temperament und Gesang der Rolle des unsterblichen Pollux und Neuling Aleksey Kursanov darf als jugendlicher Tenor Castor der Tragik der Ereignisse Lichtblicke verleihen. Ausdrucksvoll und profiliert gestaltet Sara-Maria Saalmann Phébés Persönlichkeit. Selcuk Hakan Tıraşoğlu glänzt als Jupiter wieder in einer Paraderolle, was ebenso für Mark Hightower gilt, der den Grand-Prêtre raumfüllend mimt. Ganz entzückend spielt Laura Braun, die quirlige Götterbotin, die ganz offensichtlich viel Spaß an ihrer Rolle hat.

Diese Operninszenierung hat das Zeug zum Publikumsmagneten. Der begeisterte Applaus krönt die Ideen und das Schaffen eines ungewöhnlichen Teams, dem ein Fest für Geist und Sinne glückte – das nicht einmal zwei Stunden dauert.

Inge Kutsche, 23. Februar 2025


Castor et Pollux
Oper (Tragédie lyrique) von Jean-Philippe Rameau

Fassung von Jens Neundorff von Enzberg

Staatstheater Meiningen

Premiere am 21. Februar 2025

Regie: Adriana Altaras
Musikalische Leitung: Christopher Moulds
Meininger Hofkapelle

Weitere Vorstellungen: 28. Februar, 2. und 8. März, 16. April, 4. Mai, 3. Juli 2025