Goethe äußerte 1829 in einem Gespräch mit Eckermann, dass er eine Vertonung seiner Faust-Tragödie für unmöglich halte, da „das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müsste“, der Zeit zuwider sei. Tatsächlich hat kein bedeutender deutscher Komponist des 19. Jahrhunderts sich darangegeben, diesen Kronschatz deutscher Dichtung als Opernstoff zu bearbeiten. Dies blieb mit Charles Gounod einem Franzosen vorbehalten, der durch Carrés französische Fassung Faust et Marguerite zu einer Oper angeregt wurde und schließlich 1856 bis 1858 in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Barbier für seine Faust-Oper ein für ihn akzeptables Libretto schuf. Bei Goethe ist die Gretchentragödie in die Gelehrtentragödie eingebettet. Sie ist Teil der Weltenfahrt Fausts, seines Strebens nach Erkenntnis und sinnerfülltem Leben und ist somit nur eine Station unter vielen. In Gounods Oper liegt indes der Fokus eindeutig auf der Gretchentragödie und so verwundert es nicht, dass der alternative Operntitel Margarethe gerade in Deutschland häufig verwendet wurde. Mehr noch als bei Goethe ist Margarethe die betrogene, von Faust verlassene Geliebte, die schuldlos schuldig wird, sich dem Ansinnen Fausts, sie zu retten, verweigert und aufrichtig und geläutert den Tod als Strafe akzeptiert. Diese christlich motivierte, religiöse Überhöhung von Margarethes Tod wird in der Oper Gounods gegenüber dem Vorbild bei Goethe deutlich stärker akzentuiert und herausgestellt. In Wuppertal kommt nicht die Erstfassung von 1859 im Stil der Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen als eine Art Singspiel wie Mozarts Zauberflöte zur Aufführung, sondern gespielt wird Gounods Umarbeitung des Faust für die Pariser Opéra von 1869. Die nun vollständig gesungene und um weitere Arien und Chorszenen ergänzte Oper trat in dieser Fassung einen beispiellosen Siegeszug an und wurde allein in Paris in den ersten zehn Jahren über dreihundert Mal aufgeführt. 1883 wurde sogar die Metropolitan Opera in New York mit Faust eröffnet. Auch in Wuppertal verfehlte Gounods Erfolgsoper ihre Wirkung nicht. Die Aufführung wurde lange und stürmisch bejubelt. Und dies völlig zu Recht!

Matthew Ferraro stellt in seiner Inszenierung, für die er auch die Bühnenbilder entworfen hat, ganz im Sinne Gounods die Figur der Marguerite in den Mittelpunkt. Dies kommt schon bei der Ouvertüre programmatisch zum Ausdruck, wenn auf dem schwarzen Bühnenvorhang der Titel der Oper, nämlich Faust, zunächst um den Schriftzug Marguerite ergänzt, dann aber von diesem überschrieben und sogar ausgelöscht wird. Die so von Beginn an in den Mittelpunkt gerückte Gretchentragödie aus Goethes Faust I setzt Matthew Ferraro in stimmungsvollen Bildern in Szene und erzählt die Handlung ohne Brüche und aufgesetzte Subtexte. Mit viel Fantasie, stimmungsvoller Lichtregie (Florian Kerl) und eindrucksvollen Videoeinspielungen verwandelt er das Einheitsbühnenbild, das zu Beginn Fausts Studierzimmer als einen klassizistischen Gelehrtenraum mit Bücherregalen und einem großen Fenster zur Außenwelt darstellt, in die verschiedenen Schauplätze der Handlung. Mit einer kirmesreifen Zeitmaschine, deren Uhrzeiger sich in rasender Schnelligkeit zurückdrehen, wird der alte Faust in seine Jugendzeit zurückversetzt. Eine Lichterkette als Fußbodenleiste, die bei der Volksfestszene im zweiten Akt sogar komplett das Podest umrahmt, auf dem Gaukler und Mephisto ihre Kunststücke präsentieren, verrät, dass Mephisto in seinem frivolen Spiel mit Faust und Marguerite von Anfang an eine große Show sieht, in der er als Strippenzieher und Magier die Fäden in der Hand hält, ein Teufel im blauen Maßanzug, nicht mit Pferdefuß, dafür aber mit langem rötlichem Pferdeschweif als Haartracht. Eine überdimensionierte Teufelsmarionette in knallroter Farbe, die den ganzen Bühnenhintergrund abdeckt, stellt in der Volksfestszene des 2. Akts neben den roten Luftballons den farblichen Kontrast zu den grauen Uniformen der Soldaten und den ebenfalls grauschwarz gehaltenen, prachtvollen Kostümen der Volksfestbesucher (Kostüme: Devi Saha) her, welche die von Mephisto dargebotene Show in die Entstehungszeit der Oper verlegen. Die Drehbühne zaubert im 2. Bild ein Spielzeughaus herbei, vor dem Siebel und Mephisto rote Rosen und eine Schmuckkassette ablegen, ein farbsymbolisch liebesrotes Sofa und ein großer Spiegel sind die Requisiten bei Marguerites sehnsuchtsvollen Gedanken an Faust und ihrem leichtsinnigen Jubel über die unerwartete Schmuckpracht. Das enge Spielzeughaus ist dann wieder der Ort der Verführung, der Marguerite kein Ausweichen vor ihrem Schicksal erlaubt. Herabrieselnde Schneeflocken lassen Marguerites Liebestraum zusätzlich erstarren. Eindrucksvoll gelingt auch die Kirchenszene im dritten Akt, in der Marguerite Gott um Vergebung ihrer Sünden bittet. Die Mariengestalt im Hintergrund entpuppt sich als Mephisto. Er ist es sodann, der Faust in der Walpurgisnachtszene des vierten Akts noch einmal an den Teufelspakt erinnert, ihm sein Los vor Augen führt und Faust erkennen lässt, dass er Marguerite ins Verderben gestürzt hat. Wenn Marguerite sich am Schluss dem Rettungsversuch von Faust verweigert und ihre Seele voller Reue Gott empfiehlt, so wird der von Gounod auch musikalisch so eindrucksvoll gestaltete Erlösungsgedanke in der Inszenierung Matthew Ferraros auch szenisch wirkungsvoll umgesetzt: aus dem nun geöffneten Fenster des Einheitsraums ergießt sich strahlend weißes Licht über die sterbende Marguerite. Insgesamt eine mehr als stimmige Inszenierung, bei der auch die gelungene Choreografie der Chorszenen verrät, dass Matthew Ferraro seine Karriere als Tänzer an der Metropolitan Opera und der New York City Opera begonnen hat.
Musikalisch ist der Wuppertaler Oper ein herausragender Abend gelungen. Johannes Witt, 1. Kapellmeister der Wuppertaler Bühnen, legt mit dem Sinfonieorchester Wuppertal einen romantischen Klangteppich, der die opulente Partitur Gounods ganz wunderbar zu Gehör bringt. Ein besonderes Lob verdient Ulrich Zippelius, der den Opernchor und Extrachor der Wuppertaler Bühnen zu einer wirklich bravourösen Leistung führte. Aus dem insgesamt vortrefflichen Ensemble ragte die belgische Sopranistin Margaux de Valensart als Marguerite hervor. Sie war als indisponiert angemeldet. Davon war aber nichts zu hören. Ihr lyrischer, samtener Sopran besticht in der Mittellage, glänzt aber vor allem in den groß aufblühenden Spitzentönen. Dazu glitzern die Koloraturen in der berühmten Juwelenarie Oh Dieu! Que de bijoux! … Ah! Je ris de me voir mit den Schmuckstücken, die Marguerite vorfindet, um die Wette. Auch schauspielerisch verkörpert sie die verführte und von Reue zerrissene Kindsmörderin nicht nur in der Sterbeszene herzergreifend. Sangmin Jeon kann als Faust voll überzeugen. Sein lyrischer Tenor entfaltet in den mittleren Lagen einen wunderbaren Schmelz, entwickelt dazu in der Höhe Durchschlags- und Strahlkraft. Seine große Arie Salut! Demeure Chaste Et Pure wurde so mit dem in schönstem Piano angesetzten hohen C am Schluss zu einem der musikalischen Höhepunkte dieses Abends. Für den erkrankten Erik Rousi sang Almas Svilpa die Rolle des Mephisto mit großer Stimmgewalt und Intensität. Für seine Arie Le veau d´or (Das goldene Kalb) erhielt der Bass-Bariton des Aalto-Theaters zu Recht lang anhaltenden Szenenbeifall. Zachary Wilson mit jugendlich frischem, gut geführtem Bariton als Valentin, Edith Grossmann mit kraftvollem Mezzosopran in der Hosenrolle des Siebel, Vera Egorova als komödiantische Marthe und Hak-Young Lee mit leuchtender Tenorstimme als Wagner reihten sich an diesem Opernabend in ein durchweg begeisterndes Sängerensemble ein. Am Schluss wollte der frenetische Beifall für Sängerinnen, Sänger und Regieteam nicht enden und hätte bestimmt noch sehr lange gedauert, hätten die Künstlerinnen und Künstler nicht selbst – Hände winkend – die Beifallswogen geglättet.
Fazit: ein in jeder Hinsicht beglückender Opernabend und eine Aufführung, die kein Opernliebhaber verpassen sollte.
Norbert Pabelick, 24. Februar 2025
Faust
Charles Gounod
Oper Wuppertal
Premiere am 23. Februar 2025
Inszenierung: Matthew Ferraro
Musikalische Leitung: Johannes Witt
Sinfonieorchester Wuppertal
Nächste Aufführungen: 2./23. März, 5. April