Fazit der Offenbach-Forschungen Peter Hawigs
Peter Hawig ist einer der besten Kenner und fleißigsten Autoren in Sachen Offenbach. Im Vorwort seines neusten, soeben erschienenen Offenbach-Buches schreibt er: „Überblickt man die knapp 40 Jahre zwischen Jacques Offenbachs 100. Todestag 1980 und seinem 200. Geburtstag 2019, so wird man feststellen, dass entscheidende Änderungen eingetreten sind, was die Zugangsmöglichkeiten zu seinen Werken, deren Aufführungspraxis und die wissenschaftliche Beschäftigung anlangt, und zwar zum Positiven.“

In der Tat, bis dato völlig unbekanntes oder verloren geglaubtes Quellenmaterial kam ans Tageslicht; zuverlässige und zugleich spielbare Noteneditionen sind erschienen, allen voran seitens der ,,Offenbach Edition Keck“ (OEK) des Verlages Boosey & Hawkes / Bote & Bock. Die Bühnen haben die ausgetretenen Pfade der immer gleichen Orpheus-, Helena- und Hofmann-Inszenierungen verlassen, und die Tonträger-Industrie hat Aufnahmen unbekannter Einakter auf den Markt gebracht, aber auch bisher nicht eingespielter Opere buffe und das Oeuvre für Klavier. Auf dem Konzertpodium hat sich viel getan. Hochschulen in Paris, Frankfurt und Köln – um nur einige zu nennen – haben maßstabsetzende akademische Arbeiten hervorgebracht. Rund um den 200. Geburtstag gab es 2018/19 in Köln und Paris eine Reihe medienwirksamer Animationen, in Frankfurt a. M. und in Mainz gab es vier international besetzte Symposien, deren Vorträge mittlerweile allesamt veröffentlicht wurden. Auch auf dem Buchmarkt sind maßstabsetzende Publikationen erschienen von Jean-Louis Bilodeau, Dominique Ghesquiére, Ralf-Olivier Schwarz und Laurence Senelick. Sie gelten inzwischen als Standardwerke. Nicht zu reden von den von Winfried Kirsch / Ronny Dietrich, Rainer Franke und Elisabeth Schmierer herausgegebenen Sammelbänden und diversen Ausstellungskatalogen und Spezialpublikationen. Viele Autoren haben das Ihre getan, zu einem neuen und ausdifferenzierten Offenbach-Bild beizutragen.
„Das alles bedeutet einen langsamen, aber stetigen Paradigmenwechsel. Was nicht heißt, dass es innerhalb der ‚seriösen Fachwissenschaft‘ nicht immer noch Vorbehalte gegen den ‚oberflächlichen Offenbach‘ gäbe oder dass naseweise Journalisten und unbelehrbare Regisseure nicht immer noch ihr Halbwissen öffentlich ausstellen dürfen. Doch es erweist sich nach und nach, dass das Wort Walter Abendroths von Offenbach als dem ‚Hofnarren des romantischen Säkulums‘ [woher der Titel des Buches sich herleitet, DDS] mehr ist als ein geistreiches Aperçu: Wenn mit ihm eine ‚methodisch-strukturale Zugehörigkeit zur romantischen Mentalität gemeint ist und ein ‚essenzieller Bestandteil des romantischen Selbstverständnisses, soweit dieses die Eigenironie als unabdingbares Korrektiv seiner selbst begreift.‘ Der immer etwas abseitsstehende Narr sagt dem König und den Mächtigen seiner Zeit die Wahrheit und unterläuft das gesellschaftlich Schickliche. Er ist übermütig und satirisch, traurig und melancholisch; ernst nur der Liebe und dem Leid gegenüber.“ (Peter Hawig)
Diese Charakterisierung Offenbachs entspricht den bisherigen Publikationen Hawigs, die sich immer für Offenbachs Musiktheater als (politische) Gesellschaftssatire jenseits alles Operettenhaften stark gemacht haben und mit den vielen falschen Behauptungen Schluss gemacht haben. Nach Hawig ist es der „Rückzug ins Kleinkarierte und Lebkuchenherzhafte“, aber auch – ich ergänze – das Gemütliche, Affirmative, Heimatverbundene, Patriotische und Sentimentale, was die Operette von der „Offenbachiade“ wesentlich unterscheidet.
Hawig stellte die Offenbachiade stets „in den emanzipatorischen Kontext der Folgen der Französischen Revolution: ‚Vermenschlichung des Mythos, Entkleidung des Autoritären, Durchbrechen von Denkverboten, Infragestellung des Gegebenen‘.“ An den Offenbachiaden „exemplifizieren sich innergesellschaftliche Konfliktlinien“, so Hawig. Konstitutiv für die Gattung sei der „Begriff der Verkleidung und Maskierung“. Bei der Stoffauswahl habe sich Offenbach vor allem aus der „Reservatenkammer der Bühnentradition“ bedient. Wesentlich für die Offenbachaide ist für Hawig „das Verspielte, … das Jonglieren mit Zeiten und Räumen, Masken und Artefakten.“ Offenbachs Librettisten (Scribe, Meilhac und Halévy) schrieben (unter wesentlicher Mitwirkung Offenbachs) Stücke, die geprägt sind „durch einen kritischen, nervösen Zeitgeist, den respektlosen, autoritätskritischen Umgangston, den mehrschichtigen Anspielungsreichtum, der dem des Musikers kongenial zuarbeitet.“ Parodie, Spiegelung von „Mustern und Bausteinen, Klischees, Stereotypen und Vorprägungen“ kennzeichnen die doppelzüngige Musik der Offenbachiade. Hawig spricht vom „Komponieren neuer Mosaike aus ‚vokabulärer Musik‘ und ‚musikalischen Umgangswörtern‘, eine Reaktion auf die Infragestellung von Echtheit und Identität“: Offenbachs Musik zeichnet sich ja durch Mehrschichtigkeit aus, es ist nach René Leibowitz gewitzte „Musik über Musik“. Peter Hawig prägte die Bezeichnung der die Offenbachiade als ,,systemimmanent utopische Satire in der Form des Musiktheaters“. „Der Impetus zur Satire kam Offenbach“, so schreibt einer der neueren, beachtenswerten Offenbach-Autoren, Alexander Flores, „aus seinem Ungenügen an der Welt, wie sie war – mit all ihrem Elend, ihrem Unrecht, ihrer Dummheit, usw. Auf diese Widerwärtigkeit der Welt reagierte Offenbach mit der satirischen, parodistischen, karikierenden Darstellung der Welt und der Gesellschaft in seiner Kunstform der ‚Offenbachiade‘.“ Keiner hat das so präzise dargestellt wie Peter Hawig in seinen zahlreichen Offenbach-Publikationen.
Und doch stellt er in seinem jüngsten Buch fest: „Offenbachs Kosmos ist so groß und vielschichtig, dass es noch genügend Lücken zu füllen gibt. Hier etwas beizutragen, hat sich das vorliegende Buch zum Ziel gesetzt.“ (Peter Hawig)
Hawig hat sein Buch in drei Teile gegliedert: ,,Werk“, „Kontext“ und „Räume“ . Es beginnt mit einer weit ausholenden Aufstellung der Werke und deren Verbindung mit der Vita Offenbachs, um dann Einzelwerke jenseits des Mainstreams zu untersuchen. Es folgt ein analytischer, musikdramaturgischer Teil, der wesentlich unbekannte Werke mit einbezieht. Im zweiten Teil seines Buches geht es um Librettisten, Musiker und „Multiplikatoren, die auf den Ebenen von Wort, Ton und Bild tätig waren“, er stellt Schnittpunkte mit bekannten Musikerpersönlichkeiten wie Richard Wagner und Arthur Sullivan heraus, aber auch mit unbekannten wie Louis Defies oder dem Mann, dem wir einen der ,,authentischen“ Aufführungsorte Offenbachs, den ,,Marmorsaal“ in Bad Ems, verdanken, dem Architekten Johann Gottfried Gutensohn. Um Bad Ems kreist dann der letzte Themenblock, der einen speziellen Raum darstellt, „einen Ort, der paradigmatisch für die Mentalität einer Gesellschaft steht, ohne deren Kontext Offenbach nicht zu denken ist.“
Das über 600-seitige kluge, respektheischende Buch mit seinem imposanten Anmerkungsapparat, seinen nach Themen aufgefächerten Bibliographien und zahlreichen Abbildungen darf gewissermaßen als Orientierungshilfe durch die erschlossenen wie noch unerschlossenen Gebiete der Offenbachschen Landkarte verstanden werden.
Das Buch zieht aber auch in mancherlei Hinsicht ein Fazit der Offenbach-Forschungen Peter Hawigs. Sein lebenslanger Einsatz für Offenbach und sein Kampf gegen falsche, dumme Offenbach-Vorurteile hat sich gelohnt. Das Buch ist Summe und Resümee, ein großartiges Buch eines großartigen Offenbachforschers, der optimistisch, ja zuversichtlich in die Zukunft schaut. Zu recht, denn es gibt inzwischen eine sachliche und gut informierte, vorurteilsfreie Generation, die am Werk ist, seine aufklärerische Offenbach-Arbeit weiterzuführen.
Die letzte bescheidene Bitte des Autors gilt der Nachsicht seinen Ausführungen gegenüber, die vielleicht zu sehr darauf vertrauen, dass Offenbachs Musik, „wie alle große Kunst, das Stückwerk unseres Erkennens letztlich nachsichtig und mühelos und vor allem lachend übersteigt“.
Dieter David Scholz, 9. Juni 2025
Der Hofnarr des romantischen Säkulums?
Studien zu Werk und Kontext Jacques Offenbachs
von Peter Hawig
Verlag für Kultur und Wissenschaft
605 Seiten, 48 Euro
ISBN: 9783862693085