Magdeburg: „Grete Minde“

20. Februar 2022, Premiere: 4. Februar 2022

Als im Oktober 2019 in Berlin der Stolperstein für den Kaufmann und Komponisten Eugen Engel (1875-1943) installiert wurde, brachten die zwölf aus den Vereinigten Staaten angereisten Nachkommen des Musikers Notenmaterial mit, dass seit fast 90 Jahren in einer Truhe im Kalifornischen Keller unentdeckt geblieben war. Neben Liedern, die bei der Stolperstein-Zeremonie von der Musikschule „Hans Eisler“ dargeboten wurden, brachte Engels Enkelin Janis Agee aus der Fülle von Papieren und Fotos auch einen handgeschriebenen Band mit dem Klavierauszug einer Oper „Grete Minde“ mit nach Deutschland.

Dieses Notenmaterial erreichte das kreative Theater Magdeburg wo man den musikgeschichtlichen Wert Eugen Engels erkannte. Diie Partitur wurde aufwendig rekonstruiert. Der 1875 in Widminnen in den Masuren geborene Eugen Engel war 1892 mit der Familie seiner Eltern nach Berlin gekommen und verkaufte nach einer Lehre im Kaufhaus Hermann Tietz Damenkonfektion. In seiner Freizeit eignete er sich mit Unterstützung des königlich-preußischen Ballett-Dirigenten Otto Ehlers, aber überwiegend im Selbststudium, musikalische und kompositorische Kenntnisse an. Zügig versuchte er mit Musikern der Zeit ein Netzwerk aufzubauen und korrespondierte unter anderem mit Engelbert Humperdinck, Bruno Walter und Adolf Busch.

Der produktive Autodidakt schrieb Lieder, Chorwerke, ein Streichquartett und arbeitete neunzehn Jahre an seinem Hauptwerk, der Oper „Grete Minde“. Das Libretto hatte der junge, aus Magdeburg stammende Hans Bodenstedt (1887-1958) nach einer literarischen Vorlage Theodor Fontanes (1819-1898) geschrieben, lange bevor er sich der Blut und Boden-Ideologie der Nationalsozialisten andiente.

Im Jahre 1939 emigrierte der jüdische Musiker Engel zu seiner Tochter nach Amsterdam. Während der Familie der Tochter nach der faschistischen Besetzung der Niederlande die Auswanderung in die USA gelang, wurde Eugen Engel von der amerikanischen Botschaft lediglich auf einer Warteliste registriert. Eine Zusage der Emigrationsmöglichkeit nach Kuba kam zu spät, so dass er im März 1943 über ein niederländisches Durchgangslager in Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor verbracht, dort ermordet worden ist.

Die Handlung der Oper basiert auf Ereignissen in der Zeit zwischen den Jahren 1613 und 1619 im altmärkischen Tangermünde, als bei einem gelegtem Brand am 13. September 1617 486 der 619 Wohnhäuser der Stadt und 52 Scheunen zerstört wurden. Die Novelle Fontanes, die Grundlage des Librettos, weicht allerdings vom historischen Geschehen deutlich ab, denn das Schicksal der historischen Margarethe Minde war tatsächlich grausamer und gilt mit Sicherheit als Justizmord.

Zur Handlung: Religiöse und erbrechtliche Konfliktsituationen prägten das Zusammenleben der Bürgerfamilie Minde. Die lebensfrohe Grete lebte als verwaiste Tochter einer Katholikin in der protestantischen Familie ihres Halbbruders Gerdt und dessen bigotter Frau Trud. Als Grete sich mit ihrem Freund Valtin trifft, statt den Halb-Neffen zu betreuen, gibt es eine Auseinandersetzung mit den Kindseltern. Das hatte zur Folge, dass die jungen Leute die Stadt verlassen und sich einer fahrenden Komödianten-Truppe anschließen.

Im zweiten Akt wird dem Schauspielerpaar Grete und Valtin ein Kind geboren. Aber nur wenige weitere glückliche Jahre sind dem Paar vergönnt, als Valtin ohne Hoffnung auf Rettung erkrankt. Verzweifelt verspricht Grete dem Sterbenden, nach Tangermünde zurück zugehen, um ihr Erbteil zu erkämpfen, damit für das Kind gesorgt sei.

In Tangermünde verweigert der mitleidslose Halbbruder Gerth die Aufnahme von Mutter und Kind in die Familie, aber auch die Herausgabe des Erbteils. Selbst beim Bürgermeister Peter Guntz kann Grete gegen den „Ratsherren Gerth Minde“ ihr Recht nicht durchsetzen. Als auch ein Vermittlungsversuch der Schwägerin Trud scheitert, greift Grete zur verzweifelten Selbstjustiz, zündet die Kirche an und steigt mit dem Kind auf den brennenden Kirchturm.

Inzwischen erfassen die Flammen große Teile der Stadt, so dass auch der Sohn des Stiefbruders Gerth im Feuer umkommt.

Für die Regisseurin Olivia Fuchs bot das ausgezeichnete Libretto des späteren Rundfunkpioniers Han s Bodenstedt mit seiner raschen Folge von expressiven Arien, Duetten und Chorszenen, hervorragende Möglichkeiten einer geradlinigen Erzählung der Geschichte. Die kurzweilige, recht moderne Inszenierung auf der einfach gestalteten Bühne von Nicola Turner, setzt vor allem auf die Begegnungen der Hauptpersonen, die volkstümlichen Trinklieder und Genreszenen mit den effektvollen Einsätzen des Chores.

Opulenter gestaltete Nicola Turner die Kostüme der Solisten, die, um die Aktualität der Verhaltensmuster anzudeuten, entweder ins Mittelalter oder in die 1930-Jahre verweisen.

Die Musik Eugen Engel s hat mich auf eine merkwürdige Art angefasst. Ist es doch tragisch, wie sich ein Talent in einer „Fast-Isolation“ nahezu vollständig sich selbst das musikalische Handwerk aneignen und aus sich heraus entwickeln konnte, ohne einen Durchbruch zu erlangen. Man mag sich nicht vorstellen, was Eugen Engel hätte schaffen können, wenn ihm noch Zeit in einem kreativen Umfeld und mit Theaterpraxis vergönnt gewesen wäre.

Für seine einzige Oper entwickelte Engel keine eigene Tonsprache, nutzte vor allem die erfolgreichen Vorbilder vergangener Zeiten Humperdinck und Wagner oder orientierte sich an seinem erfolgreichen Zeitgenossen Franz Schreker (1878-1934). Vermutlich gab es auch eine zeitliche Pause zwischen der Komposition der ersten Teile und der Arbeit am dritten Akt der Oper. Auch die nötige Ausgeglichenheit zwischen den Sängern und dem Orchester ist nicht immer gegeben. Da wäre viel möglich gewesen, wenn der Komponist die Inszenierung hätte selbst betreuen und Wirkungen abrunden können.

Geblieben ist uns eine vielschichtige, geschmeidige, farbige Musik, die von organischem Formbewusstsein geprägt, günstigenfalls, als der Spätromantik zugehörig, eingeordnet werden kann, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch außerhalb Magdeburgs eine breitere Hörerschaft finden wird.

Der Generalmusikdirektorin des Hauses Anna Skryleva gelingt es, mit den Musikern der Magdeburgischen Philharmonie über weite Strecken Schwächen der Partitur zu glätten, den Sänger-Darstellern eine solide Grundlage ihres Wirkens zu ermöglichen und der Aufführung damit einen wirkungsvollen Rhythmus zu verschaffen. Mit Intensität und Spannung beherrscht sie das Bühnengeschehen, bringt auch Feinheiten der Partitur zur Geltung.

Die anspruchsvolle Titelpartie der Grete bewältigte Raffaela Lintl mit authentischer Darstellung und facettenreich eingesetztem jugendlich dramatischen Sopran. Fast mühelos sang sie die lyrischen, dramatischen Partien, bot ihre Figur mit spontaner Emotionalität und Geradlinigkeit.

In der Partie des Valtin gefiel Zoltán Nyári vor allem in den emotional aufgeladenen Stücken, die er mit der Strahlkraft seines Tenors sang und eine expressive Sterbeszene zu spielen wusste.

Der eigentlich spröden, von Neid geplagten Schwägerin Trud hatte der Komponist neben ihren herrischen Auftritten warmherzige Vokalstücke geschrieben, die der Kristi Anna Isene die Möglichkeiten gaben, ihren wandelbaren hochdramatischen Sopran effektvoll vorzustellen.

Für den geldgierigen Ratsherrn und Stiefbruder der Grete hatte Marco Pantelić für seine Einsätze einen schönen kraftvollen Bariton eingebracht.

Auch die kleineren Rollen waren zum Teil luxuriös besetzt. Da wäre vor allem Karina Repova als die Domina der Klosterenklave im protestantischen Brandenburg mit ihrer katholischen Positionsbestimmung und der wunderbaren Sterbebegleitung des Valtins zu nennen.

Aus der Truppe der „Fahrenden“ ragten Johannes Wollrab als deren Prinzipal, die emotionale Komödiantin Na´ama Shulman und, mit seiner Wanderung zwischen Trunklust und Philosophieren, der burleske Benjamin Lee als „der Hanswurst“ heraus.

Mit eindrucksvollen Auftritten präsentierten sich der klare Mezzosopran Jadwiga Postrożna als die Nachbarin der Mindes Emerenz, mit einer schönen Bassstimme Paul Sketris als protestantischer Pfarrer und der Bariton Frank Heinrich als „der Wirt.

Den wenig emotionalen Bürgermeister Peter Guntz präsentierte Johannes Stermann mit eigentlich zu klangschön-sonorem Bass.

Johannes Stermann präsentierte den wenig emotionalen Bürgermeister Peter Guntz mit eigentlich zu klangschön-sonorem Bass.

Von Martin Wagner waren die Chorszenen, opulent, kraftvoll und dynamisch für die wirkungsvollen Auftritte in der Kneipe, im Fürstenzug oder im Kloster vorbereitet worden. Dabei erwiesen sich gerade diese Szenen für den Handlungsfortschritt belebend.

Bleibt uns die Begeisterung über den Mut und die Kreativität des Ensembles der Theater Magdeburg mit seinem ausgezeichneten Ensemble.

Bilder (c)Theater Magdeburg © Andreas Lander

Thomas Thielemann, 21.2.22