Patrick Hahn wird in Wuppertal vor allem mit seinen unkonventionellen Programmen im Gedächtnis bleiben. Der „Urknall“ der Welt Jean-Féry Rebels, Bernd Alois Zimmermanns „Ich wandte mich um.“, der Lärm New Yorks in Edgar Vareses „Amérique“, das unmögliche Klavierkonzert Ferrucio Busonis und anderes war in Wuppertal zu hören. Und jetzt gab es im 10. Sinfoniekonzert der 162. Saison indisch-indonesisch-sinfonische Weltmusik: Turangalîla.
Das zehnsätzige Orchesterwerk, von Olivier Messiaen komponiert 1946-1948, wurde bisher in Wuppertal noch nicht aufgeführt. Zusätzlich zum riesigen Sinfonieorchester mit zehn Schlagwerkern, Tastenglockenspiel, himmlischer Celesta gehören zur Besetzung ein Flügel und ein Ondes Martenot. Dieses frühe elektronische Musikinstrument mit Klaviertastatur, Drahtring, parallel vor der Tastatur für Glissandi, und Tastenfeld für die linke Hand zur Steuerung von Lautstärke und Klangfarbe wurde 1928 erstmalig vorgestellt. Der sphärische Klang entwickelt unterschiedliche Farben zwischen menschlicher Stimme, Violoncello, jaulender Sirene und singender Säge.

Der Titel Turangalîla ist eine Kombination zweier musikalischer Elemente. Turanga, übersetzt vielleicht Tempo, entspricht in der alten klassisch indischen Musik einer hochkomplexen Metrik, bei der die Taktzeiten sich verschieben. Lila dagegen ist Klang, Anmut, Liebesspiel. Daraus wird Weltmusik zwischen indischem Tala- Rhythmus, indonesischem Gamelan-Orchester und der ganzen Vogelwelt Asiens. Messiaen folgt hier seinem Kompositionslehrer Paul Dukas, der ihm geraten hatte, beim Komponieren den Vögeln zuzuhören. Auf Messiaens‘ Visitenkarten war zu lesen: „Komponist, Ornithologe und Rhythmiker“. Rund 600 Vogelstimmen soll er identifiziert haben Mit „katholisch“ davor wäre die Charakterisierung des Komponisten und lebenslangem Organisten ziemlich komplett. Seine ornithologische Entdeckung bestand darin, dass er die Vögel in musikalische und unmusikalische Gattungen unterschieden hat. Hätte er das zu seiner Zeit noch nicht verlegte NABU-Vogelbuches schon gekannt, wären vermutlich noch ganz andere musikalische Entwicklungen möglich gewesen. Zum NABU später mehr.
Unter der unterhaltsamen Moderation des Rundfunkredakteurs und Musik Podcasters Nick-Martin Sternitzke wurde das Publikum vor der Pause auf das exotische Werk vorbereitet. In Interviews erläuterten Patrick Hahn die Sinfonie, Thomas Bloch das Ondes Martenot, und Joonas Ahonen den schwierigen Klavierpart, der ihm aber Spaß macht, wie er sagte. Mit dem Orchester wurden einzelne musikalische Episoden und Themen vorgestellt. Inspiriert von Tristan und Isolde, war hier nachzuvollziehen, wie Lust und Rhythmus zu musikalischer Philosophie mutiert, hieß es. Messiaen schrieb von einem Liebesgesang, einer Hymne an die überströmende, blendende, maßlose Freude, …an die alles übersteigende Liebe. Zeitgenössische Komponisten haben in diesem Zusammenhang nur von Bidet und Taufbecken, gar von Bordellmusik gesprochen.
Das Sinfonieorchester Wuppertal, seit einigen Jahren dem Verein Orchester im Wandel beigetreten, lenkt jeweils in einem Sinfoniekonzert pro Saison die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Gefährdung unseres Planeten durch menschliche Aktivitäten. Diesmal war der NABU zu Gast und lenkte Blick und Ohr auf die Vögel, deren natürliche Artenvielfalt zunehmend gefährdet ist. Der Rückgang der Singvögel und ihres Gesanges im Frühjahr morgens zum Sonnenaufgang hin ist leider Tatsache. BABU und Orchester boten im Foyer Informationen, Fotos, Bücher, nachhaltige Schokolade u.a..

Nach der Pause gab es dann das musikalische Spektakel der Sonderklasse. Olivier Messiaen war Synästhetiker. Differenzierteste Instrumentierung, vielleicht der Raffinesse bei Richard Strauß vergleichbar, ergänzt um das Sirenengeheul des Ondes Martenot, und einfache Themen oder Motive, die im Verlauf immer wieder zitiert werden, charakterisierten diese abwechslungsreiche Musik für 80 Minuten. Das Klavier, meist orchestral eingesetzt, bekommt nur gelegentlich Gelegenheit solistisch zu glänzen. Solche Solo-Episoden erinnern an Kadenzen herkömmlicher Klavierkonzerte. Nur derjenige, der freien Blick auf die Klaviatur hatte, konnte die Virtuosität und technische Herausforderung des Klavierparts erahnen. Oft verschwand der Klang des Klaviers im orchestralen Orkus. Das Ondes Martenot hatte es da leichter, auch gegen aggressive chromatische Streicherglissandi. Die Einfachheit der wenigen identifizierbaren Themen, zu Beginn das fast choralartige Sechstonthema der mächtigen Posaunen Unisono-Blechs, erstaunt. Galt die Neue Einfachheit schon für Olivier Messiaen 1946? Alles andere als atonal, wurden hier über 80 Minuten interessante Höreindrücke geboten, wobei auch das Solistenquartett der Streicher, oder solistischen Einlagen von Solovioline, Solocello und Solobratsche in der Orchestermasse untergingen. Insgesamt hat Patrick Hahn souverän durch die die hochkomplexe Partitur gesteuert, auch heikle, agogische Feinheiten und verschiedene Klangebenen deutlich gemacht. Der sechste Satz, le jardin du sommeil d’amour, bot über leiserem Streicherteppich mit Nachtigall, Amsel und Gartengrasmücke im Klavier Erholung von dynamischem Stress. Im achten Satz bei der leidenschaftlichen Entwicklung der Liebe, und zum grandiosen Finale hin wurde es wieder laut. Merkwürdige Programmmusik nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges mit rund 50 Millionen Toten. Vielleicht ein unverzagtes Dennoch? Dem zahlreich erschienenen Publikum hat es gefallen. Frenetischen Beifall, Bravi und stehende Ovationen gab es für diesen ungewöhnlichen und großen Konzertabend.
Johannes Vesper, 4. Juni 2025
10. Sinfoniekonzert
Olivier Messiaen: Turangalîla
Wuppertal, Historische Stadthalle
1. Juni 2025
Musikalische Leitung: Patrick Hahn
Sinfonieorchester Wuppertal