Es ist das krönende Ende eines unglaublichen Kraftaktes, eines Abends, wie man ihn auch als eingefleischter Operngänger selten erlebt, wenn nach über dreieinhalb Stunden der letzte Ton von Philippe Manourys Die letzten Tage der Menschheit erklingt. Bis dahin hat das Publikum ein geniales Zusammenspiel von Musik, Technik, Sängern und Schauspielern, Orchester, Elektronik und Raum erlebt, dem als solches allem voran vielleicht das größte Lob gebührt. Aber wenn ein Mammutwerk die Vorlage ist, wäre es verwunderlich, wenn am Ende nicht auch ein Mammutabend dabei herauskäme, denn das Werk des Österreichers Karl Kraus, das auf so eindringliche Art und Weise die Geschehnisse, aber auch die mediale Rezeption des ersten Weltkriegs verarbeitet, kennt in Umfang, Sprache und Ausdruck nichts Vergleichbares. Eine Herausforderung, die der Komponist zusammen mit Dramaturg Patrick Hahn und Regisseur Nicolas Stemann angenommen und ein Werk gegossen hat, das im ersten Teil Kraus‘ Werk verarbeitet, um im zweiten Teil, abstrahierend und sich zeitlich entfernend, einen philosophischen Blick auf die Frage wirft, warum der Mensch das Töten und Morden nicht bleiben lassen kann.

Die Musik Manourys ist von beachtlicher Tiefe und Komplexität. Überraschend die Einleitungen der beiden Teile des Abends, denn so groß die Spannung auf das Unbekannte ist, so groß die Verblüffung: Wenn sich klangschöne Streicherklänge erheben, meint man gar für einen kurzen Moment, Wagnerschen Weltschmerz, ja Tristan zu hören. Dann verliert sich dieser Gedanke in immer dissonanteren Klängen. So zieht Manoury immer weitere Kreise und erschafft eine Musik, die nie langweilt, die immer neue Ideen hat, die in ihrer Farbigkeit, ihrer Vielfalt immer neue Akzente setzt, die drastische Ausbrüche kennt und ganz oft in kleinsten, hochkonzentrierten musikalischen Momentaufnahmen mit nur wenigen Tönen doch so viel erzählt. Der Einsatz elektronischer Klänge, die in Zusammenarbeit mit dem IRCAM im Centre Pompidou in Paris entstanden sind, ergänzt das Geschehen dabei hochinteressant. Dabei muss man sämtlichen Akteuren, allen voran aber ganz sicher Dirigent Peter Rundel ein riesiges Kompliment machen, denn nicht nur, dass er diesen monströsen Klangapparat bändigt, nein, er vermag es Tiefe und Dramatik der gigantischen Partitur auszuloten. So mag es nur richtig erscheinen, dass er für alle sichtbar den ganzen Abend in der Mitte der Bühne steht. Um ihn herum musiziert ein hochkonzentriert aufspielendes Gürzenich-Orchester, dem die Tücken der Partitur scheinbar nichts anhaben können: Man spielt diese hochkomplexe Musik, als wäre es Mozart oder Mahler. Das Orchester ist in drei Gruppen auf der Bühne positioniert, gelegentlich verschwinden Gruppen, spielen von der Seite, von hinten, aus der Fern – ein spannender Surround-Sound entsteht. Nach Zimmermanns „Soldaten“ ist es eigentlich erst das zweite Mal in der langen Zeit des Interims, dass eine Produktion die offene räumliche Situation des Staatenhauses so richtig nutzt.

Bühnenbildnern Katrin Nottrodt hat mit beweglichen Gerüstteilen und Podien eine Welt aus Versatzstücken erschaffen, in deren abstrakter Kombination mit konkreten Requisiten Szenen erzählt werden. Es entsteht durch die in diesem Setting stattfindende Regie ein wilder Bilderreigen, der – und da muss ein kleiner Wermutstropfen genannt werden – den Zuschauer an den Rand der Reizüberflutung bringt. Die hochkomplexe Musik, Chor, Orchester, Sänger, zwei Schauspieler, eine stetig wechselnde Szenerie, Videoeinspielungen, Live-Video – kurz: Da ist eine Menge los, manchmal zu viel und das ist schade, denn der Abend hat seine ganz großen Momente, wenn der Fokus einfach auf der Musik liegt. Der Beginn des zweiten Teils etwa ist so ein Moment, wo einfach mal alles zur Ruhe kommt. Das soll in keiner Weise die Leistung der Beteiligten schmälern, aber es ist nicht immer leicht, den eigenen Fokus zu finden, wenn man dieses Stück zum ersten Mal sieht. Dabei prasselt gerade durch die beteiligten Schauspieler Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg viel Information auf die Zuschauer ein und verlangt von ihnen große Konzentration. Es ist beeindruckend, wie beide sich in die musikalischen Gegebenheiten einfinden und blitzschnelle Situationswechsel vollziehen. Man würde sich gelegentlich jedoch ein bisschen mehr Vertrauen in die Musik von Seiten der Regie wünschen, denn die Sängerinnen und Sänger – alle hier einzeln aufzuführen, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen – leisten ebenfalls Großes. Stellvertretend seien die besonders ergreifenden Leistungen von Miljenko Turk, der mit samtenem Bariton allen Schroffheiten der Musik trotzt, aber auch Emily Hindrichs genannt, die sich mit großer Wucht in ihre Partie(n) wirft. So rauschen immer wieder die verschiedensten Settings, Szenen, Bilder, Momente am Publikum vorbei, ganz nach der Intention des „Thinkspiels“, des Denkspiels. Vieles ist wenig konkret fassbar, bleibt vieles im Fluss, ist offen und assoziativ. Passiert aber wirklich mal „Oper“, werden die Szenen sehr schnell plakativ, driften in Überzeichnungen ab, die das satirisch Ätzende in Kraus‘ Vorlage unterstreichen. Nahezu grotesk etwa wird die Szene der Reporterin auf dem Schlachtfeld.

Ein Name sei aber noch genannt: Anne Sofie von Otter erscheint in einigen kurzen Szenen als Angelus Novus, benannt nach dem gleichnamigen Bild von Paul Klee, dem Walter Benjamin den Rückblick in eine Katastrophe attestiert, richtet mahnend, sinnierend Worte an die Welt und wird zur personifizierten Frage nach dem „warum“. Von Otter wird zum ruhenden Pol, überzeugt mit reifer Stimme vor allen Dingen in den tiefen Lagen. Der Chor der Kölner Oper ist eine Klanggewalt, die gerade in den dramatischen Momenten des Werkes zu punkten weiß und mit großer Akkuratesse zu überzeugen vermag.
Am Ende des Abends zeigt sich das Publikum höchst angetan und belohnt die Mitwirkenden auf der Bühne, vor allen Dingen aber Dirigent und Komponist mit viel Jubel. Auch wenn man an einigen Stellen über eine szenische Überfrachtung streiten kann, so ist der Gesamteindruck ein ausgesprochen positiver. Der Kölner Oper ist mit diesem Kraftakt ein höchst spannendes Stück neues Musiktheater gelungen, das neben Begeisterung für das Werk an sich vielleicht zu Recht einen arg pessimistischen Blick auf die menschliche Vernunft und das Miteinander wirft. Ein Gedanke, der gerade in diesen Tagen mehr als stimmig scheint.
Sebastian Jacobs, 28. Juni 2025
Die letzten Tage der Menschheit
Thinkspiel in zwei Teilen von Philippe Manoury
Oper Köln
Uraufführung: 27. Juni 2025
Inszenierung: Nicolas Stemann
Musikalische Leitung: Peter Rundel
Gürzenich-Orchester Köln