Nürnberg, Ballett: „Malditos Benditos“, Goyo Montero

© Carlos Quezada

Nach 17 Jahren Abschied vom Publikum

Der Anfang ist schon das Ende – und das Ende ein neuer Anfang. Aber ist das ein Trost für das Nürnberger Ballett-Publikum? Wir kennen das Bild, mit dem Goyo Monteros letzte Nürnberger Produktion angebt, schon seit Jahren. Treibhaus, so hieß der Abend, an dem wir das schon einmal, als wär’s erst gestern gewesen, gesehen haben: Die Compagnie von hinten, im Schlussapplaus sich immer wieder verbeugend – bis einen einzelnen Tänzer aus der Mitte ausbricht und ein Solo beginnt. So beginnt die eine gute, nein: eine sehr gute Stunde währende Abschiedstour, mit der der Zaubermeister und seine Tänzerinnen und Tänzer zum letzten Mal ihr Publikum verzücken. Wir sehen 16 Szenen, lesen manchen Titel, den wir immer wieder gelesen haben, denn die letzte Neuproduktion ist so gut ein Rückbezug auf „Altes“ wie eine stete Neuschöpfung. Latent, Don Quijote, Monade, Steppenwolf: das waren einige der größten Kreationen des Mannes, der, zusammen mit seiner immer wieder verjüngten, Compagnie, 17 Jahre lang an dem gearbeitet hat, was nun als Ära in die Annalen der Nürnberger Tanz- und Theatergeschichte eingeht. Man ist, nach dem Jahrzehnt der Choreographin Daniela Kurz, die für das Nürnberger Opernhaus den Tanz neu erfunden hat (das war damals für die Nürnberger durchaus eine Revolution), seit 2008 aus Nah und Fern nach Nürnberg gereist, um sich die packenden Tanzabende anzuschauen, die aus Nürnberg – da haben die Verfasser des nun schon dritten Montero-Feier-Magazins schon Recht – eine international anerkannte Hauptstadt des Tanztheaters gemacht haben. Nun also verabschiedet sich Montero von „seinen“ Nürnbergern, die ihn seit 17 Jahren ununterbrochen getragen haben, mit einer Szenenfolge, die noch einmal alle Stilmittel des ungemein erfindungsreichen Geists auf die Bühne bringt. Und trotzdem handelt es sich nicht um eine Wiederholung bekannter Produktionen. Indem der Choreograph schon titelmäßig an seine erste Nürnberger Arbeit (Malditos Benditos) anknüpft, variiert er sie zugleich. Den einzelnen Titelnennungen der bereits uraufgeführten Ballette entsprechen keine bekannten Choreografien. Montero ließ sich von seinen vergangenen Arbeiten „nur“ inspirieren, um wiederum neue Choreografien zu schaffen. Wieder stand ihm der Komponist und Soundmacher Owen Belton zur Seite: vom ersten (dem titelgebenden Benditos Malditos) bis zum letzten Stück, dem Lied Im Dorfe aus Schuberts inkommensurabler Winterreise. Der Gesangspart wird, mit gutem Knabensopran, von Monteros Sohn Theo Montero gesungen; der Vater steht zusammen mit dem Sohn auf der Bühne. Ist das nicht selbstbezüglich? So selbstbezüglich, wie der Auftritt des Kompaniechefs und Choreographen, der im Anfang gleichsam den lieben Gott der Compagnie spielt – freilich einen Gott, der von Selbstzweifeln nicht frei ist, um sich am Ende des eine Stunde kurzen, langen abends vor uns, leicht traurig und zugleich sehr freudig, von seiner Truppe zu verabschieden.

© Carlos Quezada

Natürlich ist das selbstbezüglich – aber Montero kann es sich leisten, denn zum wiederholten Mal packt uns die Compagnie mit stärksten Bildern. Meine Lieblingsszenen? Sicher (in Latent!) die Wiederkehr der Nussknacker-Figur aus Monteros zutiefst persönlicher und mitreißender Variante des Nussknacker-Szenariums. Wieder interagiert die von mehreren Tänzern getragene und bewegte Gestalt mit dem Individuum. Das ist kein Grusel-, sondern ein menschliches Empfindungstheater, auch ein Theater über Begegnungen, wie sie nur der Tanz zu bieten vermag. Meine zweite Lieblingsszene? Sicher der Traum der Vernunft. Man hört das himmlisch schwingende Quartett aus dem Fidelio (Mir ist so wunderbar) und schaut verzaubert auf die beiden von einem Live-Video eingefangenen Frauen, die sich auf einer von der Compagnie bewegten, goldglänzenden Rettungsdecke begegnen, bevor der Nussknacker darin, wie auf dem Nichts auftaucht. Wie nennt man das? Magisch. Montero beschwört noch einmal die Geister der Vergangenheit, um in ihnen die Gegenwart zu entdecken. Versehen mit seiner eigenen Sprache – den Tänzern auf dem Boden, sich von ihm hochwerfend, den zärtlich-verzweifelten Begegnungen, den blitzschnellen Zweier-Dreier-Vierer-Paarungen, das Individuum, beleuchtet von den Taschenlampen des Kollektivs im dramatischen Bühnennebel undundund – zeigt er uns noch einmal sein Menschentheater. Für die vorletzte Szene, It’s alright, Ma, wir hören Bob Dylan, hat er für jede Tänzerin und jeden Tänzer des Abends eine Solo-Choreografie (bzw. einen kleinen pas de deux) choreographiert. Man müsste sie alle nennen:  die verdammten Gesegneten heißen Nicolas Alcázar, Eliana Mannella oder Abigail Weber, zusammen schaffen sie, weil sie alle wie um ihr Leben tanzen – und tun sie es nicht ein wenig? das Gesamtkunstwerk des Abends. Beigesellt: die menschliche Stimme. Chloë Morgan singt, in Monade, ein Rezitativ von Bach, noch einmal kommt der Tanz in direkten körperlichen Kontakt mit dem Vokalen. Damals, 2016, waren Oscar Alonso und Sayaka Kado zwei der Stars der Aufführung, Alonso steht immer noch auf der Bühne, agil wie eh und je, aber auch er wird nicht ewig auf der Bühne stehen können, zu deren Ausstattung an diesem letzten Montero-Premieren-Abend 300 Stühle gehören, die für all jene Tänzer und Ideen stehen, die seit der ersten Produktion in der Tafelhalle das Nürnberger Ballettwunder ermöglicht gaben.

© Carlos Quezada

Auch und gerade der Tanz ist etwas sehr Flüchtiges. Am Ende nimmt Montero mit seiner Compagnie und einer letzten, zusammenfassenden wie neuartigen Szenenfolge von großer Lockerheit, Fülle und Dichte nach 17 Jahren Abschied von seinem Publikum. Der Rest ist ein gewaltiger Beifall, eine Ovation für die Truppe und ihren Direktor, die noch einmal gezeigt haben, dass in der Wiederholung und im Abschied völlig Neues stecken können. Man darf gespannt sein, was der neue Choreograph Richard Siegal den Nürnbergern bringen wird, aber erst einmal darf Monteros Abschiedsstück gefeiert werden. Bis zum 19. Juli 2025 ist dafür noch Gelegenheit – die Produktion muss allen ans Herz gelegt werden, die nach den letzten 25 Arbeiten die „Abschiedskreation“ Goyo Monteros und seine fantastischen Tänzer sehen wollen, besonders aber all jenen Theaterfreunden, die mit der Kunstform „Theatertanz“ nicht gar so viel anzufangen wissen. Sie könnte eine Einstiegsdroge sein. Insofern: Jedes Ende ist ja schon ein neuer Anfang.

Frank Piontek, 30. Juni 2025


Malditos Benditos
(Verdammte Gesegnete)
Abschiedskreation von Goyo Montero
Staatstheater Nürnberg

Premiere: 28. Juni 2025

Musik von Owen Belton & anderen