Premiere 13. Oktober 2018
Der feine aber nicht kleine Unterschied, wenn Spezialisten am Werk sind – bald als Platte zu belauschen.
Kaum zehn Tage nach den Fées du Rhin in Tours geht das Offenbach-Jahr des Palazzetto Bru Zane in Bordeaux weiter. Ursprünglich war eine andere Rarität geplant, die wenig bekannte opéra-bouffe Le pont des soupirs auf deutsch: Die Seufzerbrücke aus 1861. Doch der Dirigent und inzwischen auch Direktor der Oper in Bordeaux Marc Minkowski entschied sich für La Périchole, die er immer schon dirigieren wollte und die leider in den letzten Jahren weniger gespielt wird.
Und da seine Aufführungen und Plattenaufnahmen von La Belle Hélène, La Grande-Duchesse de Gérolstein und Orphée aux Enfers Meilensteine in der Offenbach-Rezensionsgeschichte sind, konnte niemand diesem Wunsch widerstehen und es erfolgte eine Einladung von Cecilia Bartoli an die Pfingstfestspiele in Salzburg, wo diese Périchole im Mai konzertant gespielt wurde und im Juli im Festival Radio France in Montpellier wiederaufgenommen wurde.
Dass La Périchole in Deutschland so wenig bekannt ist und auch in Frankreich langsam von den Spielplänen verschwand, hat sicher nichts mit ihrer Musik zu tun. Denn an Offenbachs Beerdigung sang die große Offenbach-Interpretin par excellence Hortense Schneider, die seine größten Rollen uraufgeführt und tausende Male gesungen hatte, die bewegende Brief-Arie der Périchole.
Es liegt an dem Sujet: der König von Peru ist inkognito auf Jagd nach neuen Mätressen und verliebt sich in die bildschöne aber brotlose Straßensängerin Périchole, die er über Nacht adelt, im Palast installiert und – völlig betrunken – dem gesamten Hof vorstellt. Das Pariser Publikum von 1868 erkannte darin mühelos die Maitressenwirtschaft von Kaiser Napoleon III, worüber ich einen Artikel geschrieben habe, der zusammen mit dieser neuen Aufnahme der Périchole im Januar erscheinen wird.
Doch als vor wenigen Jahren Präsident Hollande internationales Medieninteresse bekam, als er von einem Fotografen ertappt wurde wie er sich inkognito – als Motorradfahrer getarnt – vom Elysee-Palast in die Wohnung seiner Mätresse begab, wusste kein Journalist zu melden, dass diese im gleichen Haus wohnte, in dem Kaiser Napoleon III schon seine unehelichen Kinder und seine Hauptmätresse untergebracht hatte -eine vermögende Kurtisane, die seine politische Karriere finanziert hatte. Hollande wusste dies sicher auch nicht – die Orte und Sitten ändern sich wenig in Paris, aber das historische Verständnis geht verloren. Jacques Offenbach hätte sich köstlich amüsiert, dass seine opéra-bouffe nun an einem der edelsten Opernhäuser Frankreichs gespielt wird.
Das elegante Grand Théâtre von Architekt Victor Louis wurde 1780 in Anwesenheit von Königin Marie-Antoinette eröffnet und ist mit den Opern in Versailles und Nantes der einzige französische Opernsaal aus dieser Epoche, der seine ursprüngliche Farbe königsblau behalten hat. Die Architektur und das Ambiente sind prächtig und die Akustik hervorragend weil alles noch aus Holz ist. So kann man unter den besten Bedingungen lauschen, was uns hier geboten wird. Und das ist vom Feinsten.
In Tours empfanden wir das Dirigat leider genauso brutal und unnuanciert wie die Regie, sodass wir schon nach einer Stunde wegen der permanenten Über-Lautstärke und den Salven von Maschinengewehren auf der Bühne Kopfschmerzen bekamen.
In Tours verließen einige Offenbach-Spezialisten empört den Saal, in Bordeaux herrschte allgemeine Bewunderung. Die Musciens du Louvre spielten lt. Programmheft auf romantischen Instrumenten einen Offenbach, den wir schon lange nicht mehr so fein und nuanciert gehört haben. Marc Minkowski dirigierte das alles mit viel Finesse, Humor und dem für die französische Musik so essenziellen raffinement.
Der durch Salvatore Caputo exzellent vorbereitete Choeur de l’Opéra de Bordeaux sang nicht nur rhythmisch präzise, sondern blieb auch noch in den geflüsterten Passagen textverständlich. Wie oft wurde in den französischen Medien vor zwanzig Jahren gejammert, dass es keine Französischen Sänger mehr gäbe, weil bei der fortschreitenden Internationalisierung des Sängerbetriebes niemand mehr die ganz spezifische französische Technik noch lernt.
Daraufhin wurden mehrere Sängerakademien gegründet, wie das Atelier Lyrique der Pariser Oper, dem ein Großteil der jetzigen Besetzung von 2008 bis 2012 angehört hat. Zehn Jahre später erntet man nun die Früchte dieser präzisen Arbeit und steht nun eine Sängerriege auf der Bühne, die diese spezifische Gesangskultur perfekt beherrscht. So konnte Marc Minkowski jeder Rolle einen anderen accent geben – je nachdem ob eine Figur vom Hof oder aus dem Volk stammt oder – wie bei Offenbach so oft – ein König den Vorstadtganoven spielt oder eine Straßensängerin mit Juwelen behängt am Hof erscheint. All dies konnte man hören.
Die Sensation des Abends war für uns Aude Extrémo als Périchole. So haben wir diese Rolle noch nie gehört, auch wenn so ungefähr jede bekannte französische Sängerin, von Régine Crespin bis Nana Mouskouri, die beliebten Arien der Périchole in ihr Konzertprogramm aufgenommen hat (sei es nur als Zugabe). Denn jetzt steht kein Sopran und keine leichte Operettensängerin auf der Bühne, sondern ein Mezzo mit tiefer Bruststimme, die schon Dalila, Amneris und die Tannhäuser-Venus gesungen hat. Dies gibt der Figur eine ungekannte Tiefe. Auch wenn Hortense Schneider diese bei der Uraufführung stimmlich sicher nicht gehabt haben kann – sie hatte keine ausgebildete Stimme, dafür aber unendlich viel Charme, dem so ungefähr alle männlichen gekrönten Häupter Europas zu Füßen lagen – wird Offenbach bei der Komposition wahrscheinlich eine derart tiefe Stimme vorgeschwebt haben.
Er war ja ursprünglich Cellist. Trotz angesagter Indisposition sang Aude Extrémo alle Arien mit einer zugleich großen und bis ins kleineste Detail fein geführten Stimme – ihr lag danach der ganze Saal zu Füssen. Stanislas de Barbeyrac, den Marc Minkowski vor zwei Jahren als Renaud in Armide an die Wiener Staatsoper mitgebracht hat und der seitdem eine internationale Karriere macht, gab dem Straßensänger Piquillo stimmliche Noblesse, auch wenn er offensichtlich wegen Premierenstress und Rollendebüt – er hatte im Gegensatz zu den anderen Sängern keine sechs Monate Vorlaufzeit gehabt – einige Einsätze verpatzte.
Alexandre Duhamel, in Erinnerung als wunderbarer Sancho in Massenets Don Quichotte, war ein überaus spielfreudiger König Don Andrès de Ribeira mit sonorer und ebenfalls immer fein geführten Stimme, äußerst witzig begleitet durch seine Hofschranzen Marc Mauillon als Don Pedro de Hinoyosa und Eric Huchet als Don Miguel de Patanellas, der diese Rolle immerhin schon 150 Mal gesungen und gespielt hat. Auch die kleineren Rollen waren intelligent besetzt und sehr fein ausgearbeitet. So hatten die beiden Notare, Enguerrand de Hys und François Pardailhé – zwei Tenöre – jeder mit einen eigenen überzeichneten accent und die vier Wirtshausdamen Olivia Doray, Julie Pasturaud, Mélodie Ruvio und Bignagni Lesca natürlich auch. Das gab ihren Ensembles viel mehr Witz und Relief als üblich.
Die szenische Umsetzung war nicht ganz von derselben Feinheit, doch das kann man dem sympathischen jungen Regisseur Romain Gilbert und seinem Ausstatter Mathieu Crescence nicht vorwerfen. Als ich in einem vorigen Leben in eben diesem selben Haus Opern inszeniert habe, bekam ich vor zwanzig Jahren jedes Mal sechs Wochen Probenzeit. Jetzt gab es nicht einmal eine Woche. Kein Wunder, dass das Bühnenbild nur aus Vorhängen bestand. Doch die Kostüme waren maßgeschneidert und wirklich auf jede Figur zugeschnitten; in Tours war das deutlich sichtbar nicht der Fall.
So fühlten sich die Sänger sichtlich wohl und wurde mit viel Spielfreude und Fantasie gesungen und gespielt. Und originelle Regieeinfälle gab es auch: ich habe den etwas langen Eröffnungschor des dritten Aktes, reveillez-vous noch nie so lustig gesehen. Diese Inszenierung ist viel witziger und spritziger als die von z.B. Jérôme Savary, die Jahre lang an verschiedenen Theatern in Frankreich an Sylvester gespielt wurde, und in meinen Augen dafür verantwortlich ist, dass La Périchole immer weniger gespielt wird. Denn bei Savary wirkte sie billig und vulgär.
Am Tag nach der Premiere wurde Marc Minkowski die Légion d’honneur überreicht für seine Verdienste für die französische Musik. Diese Auszeichnung hat er inzwischen mehr als verdient und wir freuen uns schon auf seine neuste Offenbach-CD im Januar – beim Palazzetto Bru Zane ein ganzes Buch mit vielen Artikeln und neuem Material. Offenbach klingt eben anders, wenn er feinfühlig und durchdacht durch Spezialisten gespielt/präsentiert wird. Ein weiteres Geburtstagsgeschenk für sein Jubiläumsjahr!
Bilder (c) Vincent Bengold
Waldemar Kamer 18.10.2018
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online