Radebeul: „Der Besuch der alten Dame“

Premiere: 26.05.2018

Schuld und Sühne

Liebe Opernfreund-Freund,

Friedrich Dürrenmatts Drama „Der Besuch der alten Dame“ ist Ihnen sicher ein Begriff, entweder, weil Sie es von der Theaterbühne kennen, weil es zu Schulzeiten zur Pflichtlektüre gehörte oder weil Ihnen die ARD-Produktion mit Elisabeth Flickenschildt in der Titelrolle unvergesslich ist. Bis heute ist die Aktualität des Sujets ungebrochen, ein jeder fragt sich „wie würde ich handeln“, lotet das Stück aus dem Jahr 1956 doch die Grenzen der eigenen Moral aus wie wohl kaum ein zweites. Die Opernversion des Dramas, zu dem Dürrenmatt selbst das Libretto verfasste, ist in der genialen musikalischen Umsetzung von Gottfried von Einem seit gestern in Radebeul zu erleben.

Claire Zachanassian kehrt nach fast 50 Jahren steinreich in ihr Heimatstädtchen Güllen zurück. Sie ist durch zahlreiche Ehen zu Geld gekommen, bietet der nun bettelarmen Stadt eine ihrer Milliarden als Spende an, verlangt allerdings Gerechtigkeit. Der Krämer Alfred Ill hatte sie seinerzeit geschwängert, mit Schimpf und Schande hatte sie den Ort entehrt verlassen und sich als Prostituierte verdingen müssen. Nun soll Ill sterben, dafür erhält der Ort Wohlstand. Die Einwohner weisen das Angebot erst brüsk zurück, erliegen dann aber der Gier nach dem versprochenen Geld. Gottfried von Einem hat daraus 1971 eine Oper gemacht, ein klanggewaltiges Werk – wie alle Kompositionen von Einems der Tonalität verpflichtet, das nach einer Mischung aus Richard Strauss und Zemlinsky klingt, in das er aber auch immer wieder Walzer-, Marsch- oder Jazzmotive einflicht. Die dramatische Wucht der Vorlage wird von dem Österreicher, dessen Geburtstag sich 2018 zum 100. Mal jährt, gekonnt in musikalisches Drama gegossen, zu dessen Höhepunkten sicher die Umsetzung des Angebots der alten Dame gehört.

Und die hätte man auch anderswo nicht besser besetzen können, denn in Radebeul wird Ensemblemitglied Stephanie Krone in den zweieinhalb Stunden zur eindrucksvollen Verkörperung dieser vielschichtigen Figur. Die Sopranistin ist überzeugend die nach Rache lechzende Alte, kraftvoll und fordernd in den Ausbrüchen, wird aber in den Erinnerungsszenen mit ihrem einstigen Liebhaber auch stimmlich wieder zum unschuldigen Mädchen Klara. Das mit anzuhören und dieser unglaublichen Sängerdarstellerin bei der Gestaltung der Claire zuzusehen, ist eine reine Wonne. Der junge Regisseur Sebastian Welker hat seine Interpretation auch ganz und gar auf die Titelfigur abgestellt, thront sie doch fast ausschließlich auf einem Gerüst hinter einer Gaze und deklamiert ihre Anschuldigungen und Forderungen von oben herab. Die Damen des Chores sind Spiegelungen der jungen Klara, so dass die alte Dame auch visuell die ganze Stadt verführt. Der dunkle Bühnenraum, den Christoph Gehre vor dem im hintern Teil der Bühne postierten, groß besetzten Orchester gebaut hat, vermittelt die Enge des Ortes, der Alfred nie hat entrinnen können, zeigt aber auch die geistige Enge der Güllener. Die sind anfangs noch in verdreckte und zerlumpte Klamotte gehüllt, leisten sich aber im Laufe des Abends wegen der Aussicht auf baldigen finanziellen Wohlstand schon Anzüge und neue Schuhe auf Pump. Die Enge des Raumes ist auch das einzige Problem der Inszenierung, denn gerade wenn sich die ganze Stadt auf der Bühne zu tummeln hat, lässt es Welker an präziser Personenführung mangeln und erzeugt so ein Übermaß an Konfusion. Dafür aber vermag er, die komischen Stellen des Dramas hervorragend zu nutzen, spielt gern mit Skurrilität und macht aus Koby und Loby, die von Marc-Eric Schmidt und Leo Mastjugin hervorragend gespielt und gesungen werden, zwei maskierte Sexsklaven oder steckt den zum Butler gewordenen Richter, den Kay Frenzel mit hellem Tenor zum Leben erweckt, in ein Zofendress. Der Lehrer von Kazuhisa Kurumada bleibt ebenso im Ohr wie Hagen Erkrath, der den Pfarrer mit profundem Baß ausstattet. Warum man aber die Stimme von Ills Frau über Lautsprecher steuert, erschließt sich mir nicht. Anna Erxleben wäre mit ihrem charmanten Sopran sicher auch unverstärkt über die Rampe gekommen. Dan Chamandy verkörpert als Gast den Bürgermeister und macht das hervorragend. Ihm gelingt eine genaue Zeichnung des doppelmoralischen Ortsvorstehers mit seinem eindrucksvollen und vor Kraft strotzenden, dunkel gefärbten Tenor. Nahezu ununterbrochen auf der Bühne ist Alfred Ill und der zum Ensemble gehörende Koreaner Paul Gukhoe Song meistert diese Monsterpartie ohne hörbare Anstrengung. Er zeigt alle Facetten seiner kraftvollen Stimme, gibt gerade noch den verzweifelten Gejagten, um sich im nächsten Moment zum imposanten Appell emporzuschwingen. Bravo!

Im Graben, der sich an diesem Abend auf der Bühne befindet, hält Ekkehard Klemm die Fäden zusammen, musiziert präzise und liefert mit den Musikerinnen und Musikern der Elbland Philharmonie Sachsen eine ebenso grandiose Leistung ab wie der von Sebastian Matthias Fischer betreute Chor. Nach dem letzten Ton sitzt das Publikum gebannt im Sessel, beeindruckt von der Visualisierung der letzten Szene, angetan von den Tänzern Morgan Perez und David Espinosa Angel, die als junges Paar durch den Abend begleiten, berührt von der künstlerischen Interpretation und bewegt von der Frage, ob man wirklich alles kaufen kann… Kaufen können (und sollten) Sie in jedem Fall ein Ticket für eine der drei Vorstellungen, die es in der laufenden Spielzeit noch geben wird. Dem Vernehmen nach wird die Produktion zudem in der kommenden Saison wiederaufgenommen – dann werde auch ich sicherlich noch einmal vom Rhein an die Elbe reisen, um diese Rarität nochmals so vollendet erleben zu dürfen.

Ihr Jochen Rüth / 27.05.2018

Die Fotos stammen von Hagen König