Dresden: „Nijinsky“, John Neumeier

Mit dem Leben und Schaffen des russischen Tänzers Vaslaw Nijinsky hat sich John Neumeier über Jahrzehnte auseinandergesetzt. 1979 kam beim Hamburg Ballett sein Kurzballett Vaslaw auf Musik von J. S. Bach im Rahmen einer Nijinsky-Gala zur Uraufführung. 30 Jahre später erinnerte er in Le Pavillon d´Armide noch einmal an die Tanzlegende. Dazwischen liegt das abendfüllende Hauptwerk: Nijinsky, uraufgeführt am 2. Juli 2000. Mehrere Starbesetzungen hat es inzwischen in Hamburg gegeben, zuletzt am 6. Juli 2023 in der 147. Vorstellung seit der Premiere die italienische Assoluta Alessandra Ferri als Nijinskys Frau Romola neben Alexandr Trusch als Titelheld. Verschiedene Ballettcompagnien haben das Stück im Repertoire und seit dem 24. Februar 2025 ist es auch beim Semperoper Ballett zu sehen. Der Choreograf selbst hat die Einstudierung überwacht und die vom Publikum euphorisch gefeierte Premiere bewies, dass das in die Compagnie gesetzte Vertrauen mehr als berechtigt war.

© Semperoper Dresden/Admill Kuyler

Die Handlung beginnt mit Nijinskys letztem Erscheinen als Tänzer im Ballsaal des Suvretta House in St. Moritz. „Hochzeit mit Gott“ nannte er, schwer schizophren, diesen Auftritt. Der neu engagierte amerikanisch-kanadische Solist James Kirby Rogers gab in der Titelrolle eine beachtliche Probe seines Könnens, faszinierte schon in dieser ersten Szene mit seiner Agilität, Sprungkraft und totalem körperlichem Einsatz. Was ihm fehlt, ist eine charismatische Aura, welche die Hamburger Rollenvertreter ihm voraus hatten und haben. Diesbezüglich ist ihm Svetlana Gileva überlegen, die als seine Frau Romola in stiller Größe das Leiden ihres Mannes teilt. Erschütternd die Szene, wenn sie den Geisteskranken auf einem Schlitten hinwegzieht und ins Sanatorium bringt, um ihn vor den Gräueln des Ersten Weltkrieges und der Erschütterung über den Tod seines Bruders Stanislaw zu retten. Die Vermählung mit ihr führte aber auch zum Bruch von Nijinsky mit seinem Liebhaber und Mentor Serge Diaghiliew, dem Impresario der Compagnie Les Ballets Russes, die ab 1909 in Paris sensationelle Erfolge feierte. Der seit 2023 beim Semperoper Ballett engagierte Australier Richard House ist tänzerisch ein sehr solider Interpret dieser Rolle, doch auch ihm fehlt in der Ausstrahlung eine Dimension – die der schillernden Abgründigkeit.

© Semperoper Dresden/Admill Kuyler

Der Eingangsszene im Ballsaal folgen verschiedene Episoden aus dem Leben des Tänzers sowie Fragmente seiner Karriere. Letztere zählen zu den faszinierendsten Teilen des Balletts, erwecken sie doch den einzigartigen Kosmos von Nijinskys Kunst neu. Neumeier, der für sein Ballett auch die Ausstattung besorgte, versendete für diese Szenen Originalentwürfe der Bühnenbilder von Léon Bakst und Alexandre Benois, was imposante optische Effekte erzeugte. Glänzende Einzelleistungen sind hier hervorzuheben, so Stanislaw Wegrzyn als wirbelnder Harlequin in Carnaval und sinnlicher Geist der Rose in Le spectre de  la rose oder Joseph Gray mit lasziver Aura in zwei der berühmtesten Rollen Nijinskys: als Goldener Sklave in Scheherazade und Faun in L´Après-midi d´un faune. Im 2. Teil sorgte Dresdens großer Charaktertänzer Christian Bauch als Petruschka für einen erschütternden Auftritt, weil sich in dieser Szene Nijinskys alptraumhafte Visionen vom Krieg, der Untreue seiner Frau, dem Pariser Skandal seiner Sacre-Choreographie und dem Tod des Bruders (Filippo Mambelli mit Atem beraubender Vehemenz) zu beklemmender Dichte türmen. Gewürdigt wird auch Nijinskys berühmte Partnerin Tamara Karsavina. Bianca Teixeira zeigt sie anmutig als Sylphide aus Les Sylphides, geheimnisvoll als Nymphe in L´Après-midi d´ un faune undmarionettenhaft als Ballerina in Petruschka. Vincenzo Mola mit starker erotischer Ausstrahlung als Der neue Tänzer, Leonid Massine macht dessen Faszination auf Diaghilew glaubhaft und überzeugt auch mit sportlicher Attitüde als Junger Mann in Jeux. Susanna Santoro als Nijinskys Schwester Bronislava hat ein fulminantes Solo als Opfer in Le Sacre, zu dem die männlichen Tänzer der Compagnie mit furiosem Einsatz eine beklemmende Kriegsszene koppeln. Überhaupt trägt das Corps de Ballet maßgeblich zur hinreißenden Wirkung der Aufführung bei. Ob als Zuschauer im Suvretta House, als Hochzeitsgäste, Mitreisende, Menschen oder Soldaten – das Engagement und der körperliche Einsatz der Tänzer waren bewundernswert.

© Semperoper Dresden/Admill Kuyler

Nicht zuletzt sorgte die Sächsische Staatskapelle Dresden unter Leitung von Simon Hewett auch für ein großes musikalisches Erlebnis mit der Interpretation von Rimskij-Korsakows Scheherazade mit ihren flirrenden Orientalismen und Schostakowitschs erschütternder Sinfonie Nr. 11, „Das Jahr 1905“, op. 103. Beide Werke bildeten die perfekte atmosphärische Musikfolie zum Geschehen, ergänzt um Klaviermusik von Chopin und Schumann (Solist: Alfredo Miglionico) sowie dem 3. Satz aus Schostakowitschs Sonate für Viola (Florian Richter) und Klavier, op. 147.

Das letzte Bild gehört der Titelfigur und James Kirby Rogers überwältigte bei diesem finalen Auftritt mit existentieller, bis an die physischen Grenzen gehender Hingabe. Das Publikum feierte alle Mitwirkenden dieser Produktion, die schon jetzt als Höhepunkt der Saison eingestuft werden kann, enthusiastisch und anhaltend.

Bernd Hoppe, 27. Januar 2025


Nijinsky
Ballett von John Neumeier
mit Musik von Frédéric Chopin, Nikolaj Rimskij-Korsakow, Dmitri Schostakowitsch und Robert Schumann

Semperoper
Ballett Dresden

Premiere am 24. Januar 2025

Choreografie: John Neumeier
Musikalische Leitung: Simon Hewett
Staatskapelle Dresden