Bremen: „Don Carlo“

Premiere am 18. September 2022

Bücher sind gefährlich

Für Verdi-Freunde in Bremen und Umgebung gab es in jüngster Zeit viel Futter. Das Musikfest präsentierte konzertant einen kompletten „Rigoletto“, Bremerhaven eröffnete seine Spielzeit mit „Macbeth“ und am Bremer Theater wurde als erste Opernpremiere Don Carlo gezeigt. Und das war mit fast vier Stunden Spieldauer richtig zum Sattwerden, denn gespielt wurde die fünfaktige Fassung mit dem Fontainebleau-Akt.

Der in Bremen geborene Regisseur Frank Hilbrich ist hier kein Unbekannter und hat am Bremer Theater bereits „Der Vetter aus Dingsda“, „The Turn of the Screw“ und den „Rosenkavalier“ inszeniert. Nun ist er in Bremen leitender Regisseur des Musiktheaters geworden. Bei seiner Sicht auf „Don Carlo“ mag eine Inspiration der Tatsache geschuldet sein, dass der spanische König Philipp II. die größte Bibliothek seiner Zeit besaß. Jedenfalls zeigt das Bühnenbild von Katrin Connan riesige, grau in grau getauchte Bücherwände. Mit ihrem stufenartigen Aufbau erinnern sie gleichzeitig an den Turmbau zu Babel. Für Hilbrich beginnt eigentlich erst mit Büchern die Zivilisation. Auf den Stufen dieser Bibliothek sieht man überall lesende Menschen. Aber Bücher sind für die Institutionen der Macht, egal ob kirchlich oder weltlich, auch eine Gefahr. Sie können deshalb brennen. „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“, hat Heinrich Heine gesagt. Hilbrich zeigt beides in der grandios und überwältigend arrangierten Autodafé-Szene, bei der eben Bücher verbrannt und Menschen so sehr von wolfsartigen, lauernden Wesen auf das Grausamste gefoltert werden, dass auch für die Zuschauer fast eine Schmerzgrenze erreicht wird. Nach dem Autodafé sind die Bücherwände dann leer.

Hilbrichs Inszenierung zeichnet sich insgesamt durch eine sehr intensive und klug durchdachte Personenführung aus. Die Wechselwirkung zwischen Politischem und Privatem wird deutlich herausgearbeitet. Bei der Freundschaftsbekundung zwischen Posa und Don Carlo (und auch später noch) spielt die knallgelbe Flagge Flanderns eine große Rolle. Die Szene wirkt wie ein Eid auf die Fahne. Bei der nächtlichen Begegnung zwischen Eboli und Don Carlo lodert bei ihr soviel Leidenschaft wie bei Carmen und Don José. Eindrucksvoll gerät auch die Auseinandersetzung zwischen König Philipp und dem Großinquisitor. Letzter sitzt dabei unbeugsam auf dem Thron – da bleibt kein Zweifel darüber, wer die eigentliche Macht im Staat hat. Keinen Zweifel gibt es auch daran, dass das Streben von Posa und Don Carlo nach Freiheit zum Scheitern verurteilt ist. „O Freiheit! Du bist ein böser Traum!“ kann man zu Beginn und am Ende in großer Schrift lesen. Trotz aller Meriten von Hilbrichs Inszenierung gibt es doch kleine Einschränkungen. Dass Eboli und die Hofdamen dem Pagen Tebaldo bis zur Vergewaltigung an die Wäsche gehen, ist überflüssig. Und beim Fontainebleau-Akt hört man lange nur die Stimmen hinter dem schwarzen Zwischenvorhang, bevor man schemenhaft etwas erkennt.

Dann wird (wieder einmal) darauf ein Live-Video projiziert, das zudem völlig unsynchron ist. Marko Lentonja und die Bremer Philharmoniker musizieren diesen Don Carlo durchgängig mit energievoller Spannung, mit großem Atem und viel Sinn für Feinheiten und dynamische Abstufungen. Allein der Orchesterausbruch nach Posas Auseinandersetzung mit Philipp geht tief unter die Haut. Auch die düstere Welt des Großinquisitors spiegelt sich eindrucksvoll im Orchester wider. Der Chor (Alice Meregaglia) zeigt sich ebenfalls von der besten Seite. In der Titelpartie hat Luis Olivares Sandoval viele schöne Momente und kann die Vorzüge seines Tenors gut zur Geltung bringen. Im späteren Verlauf muss man aber angesichts der Länge der Partie kleine Abstriche machen. Ob das eher helle Timbre von Michal Partyka unbedingt für den Posa geeignet ist, bleibt Geschmackssache. Er ist nicht unbedingt ein typischer Verdi-Bariton, verfügt aber über eine sichere Höhe und gestaltet die Partie mit viel Leidenschaft.

Sarah-Jane Brandon ist ebenfalls neu im Ensemble und begeistert als Elisabetta mit ihrem lyrischen Sopran, silbrigem Stimmklang und wunderbaren Piani. Patrick Zielke besticht als Philipp mit seiner Bühnenpräsenz und ausgefeilter Gestaltung. Die Tragik und auch die Brutalität der Figur werden sehr deutlich. Nathalie Mittelbach kann als Eboli nicht nur mit ihrem vehementen Ausbruch bei „O don fatale“ überzeugen. Der ukrainische Bassist Taras Shtonda gibt den Großinquisitor mit machtvoller Urgewalt. In kleineren Partien sind Stephen Clark als Mönch, Elisa Birkenheier als Tebaldo, Nerita Pokvytyte als Stimme vom Himmel und Christian-Andreas Engelhardt als Lerma und Herald zu hören.

Wolfgang Denker, 19. September 2022

Fotos von Jörg Landsberg