Erfurt: „Andrea  Chenier“

Dernière am 21.06.2015

Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder

Lieber Opernfreund-Freund,

heute schreibe ich Ihnen aus der Thüringischen Landeshauptstadt, in der ich heut Nachmittag die Dernière von Umberto Giordano s „Andrea Cheniér“ besucht habe. Die Geschichte um die nicht standesgemäße Liebe einer Adeligen und eines Poeten zu Zeiten der französischen Revolution und der anschließenden Schreckensherrschaft der Jakobiner wird in Deutschland vergleichsweise selten gezeigt, ist aber im Gegensatz zu Giodanos „Fedora“ glücklicherweise nicht gänzlich in der Versenkung verschwunden. Das Werk wird immer wieder einmal aufgeführt, beispielsweise in der laufenden Spielzeit in Braunschweig und in der nun in Erfurt gezeigten Inszenierung durch den Hausherrn Guy Montavon – einer Koproduktion mit dem Staatstheater Nürnberg, wo die Inszenierung bereit 2013 zu sehen war.

Der Erfurter Generalintendant zeigt die Dreiecksgeschichte vor dem Hintergrund der „Revolution, die ihre eigenen Kinder frisst“, wie es in einer Stelle des Librettos von Luigi Illica – dem Operngänger vor allem als Textschöpfer von „La Bohéme“, „Madama Butterfly“ und „Tosca“ ein Begriff – heißt, nah am Libretto, setzt ganz auf opulente Ausstattung, die Wirkung der Musik und vor allem im ersten und letzten Akt auf exzellente Lichtregie. Die Handlung spielt sich zu Beginn ein einem anthrazitfarbenen Kabinett ab (Bühnenbild: Edoardo Sanchi), dessen matter Glanz schon auf die verblassende Macht des Adels hindeutet. Der ist in den zeitgenössischen Modegeschmack karikierende Roben gewandet und in Habitus und Gestus ebenso künstlich, wie die wunderbar farbenprächtigen Kostüme von Roswitha Thiel. Aus dieser Kunstwelt ausbrechen will der junge Gérard, der wie sein Vater Diener im Hause der Familie Coigny ist und vom revolutionären Gedanken beseelt gegen den Feudalismus aufbegehrt. Dennoch liebt er die Tochter seiner Herrschaft, Maddalena de Coigny. Die wiederum ist dem freigeistigen Dichter Andrea Chénier zugetan und besteigt, nach Denunzierung des Dichters durch den im Strom der Revolution aufgestiegenen Gérard, zusammen mit dem geliebten Chénier das Schafott. Das unheilvolle Ende deutet sich in Montavons Inszenierung bereits von Beginn an immer wieder an; im ersten Bild schon erschlagen die wie einer Traumwelt entsprungenen schwebenden Blüten die adelige Gesellschaft, Maddalena als einzige Überlebende irrt im zweiten Bild zwischen blind gewordenen überdimensionalen Barockspiegeln umher, die an herunter fallende Guillotinen erinnern. Woher die Faszination der Adelstochter für revolutionäres Gedankengut und/oder den Dichter kommt, ergründet die Inszenierung zwar nicht; bleibt aber die Liebesgeschichte an sich auch undurchsichtig, berührt der fatale Schluss doch nicht zuletzt aufgrund der wunderbaren Musik.

Das Internet ist voller Lobeshymnen für den amerikanischen Tenor Marc Heller, der die Titelrolle singt. Von „makelloser Stimmführung“ ist da die Rede, von „enormem Audruck“. Ich weiß nicht, ob Herr Heller einen schlechten Tage hatte, aber ich konnte am heutigen Nachmittag davon nicht viel hören. Die beinahe baritonal gefärbte Tenor-Stimme verfügt über eine sichere Höhe, das ist richtig. Aber diese kommt vor allem durch viel Druck zustande, droht bisweilen sogar ins „Knödelige“ abzugleiten. So sitzen dann zwar die Töne, differenzierter Gesang, der auch einmal im wahrsten Wortsinne leise Töne anschlägt, der Gefühle transportiert und zu berühren vermag, hört sich anders an. Das kann seine geliebte Maddalena, dargestellt von der jungen Chilenin Macarena Valenzuela besser. Sie verfügt über eine warme, angenehme Mittellage, geht sorgsam mit ihrer Kraft um und kann so auch Feines in der Höhe präsentieren, erzeugt mit der Arie „La mamma morta“ Gänsehaut und überzeugt auch in der klanggewaltigen Schlussszene. Der unglücklich verliebte Gérard, der sein Komplott auch auf Maddalenas herzzerreißendes Bitten hin nicht mehr rückgängig machen kann, findet im aus Izmir stammenden Ensemblemitglied Kartal Karagedik einen idealen Sängerdarsteller, der der Rolle mit seinem kraftvollen Bariton stimmlich wie darstellerisch bestens gewachsen ist. Die für die erkrankte Erstbesetzung eingesprungene Mezzosopranistin Milda Tubelyte – gestern noch am Staatstheater Braunschweig in „Wuthering Heights“ zu sehen und zu hören – überzeugt als Gräfin von Coigny, Maddalenas Mutter, die den gesellschaftlichen Umschwung nicht wahr haben will, ebenso, wie als rührende Alte Madelon, die ihren letzten verbliebenen Enkel als Kanonenfutter „abliefert“, und hinterlässt nachhaltigen Eindruck.

Marisca Mulder s Bersi kommt stimmlich wie darstellerisch wunderbar kokett daher. Von den übrigen Ensemblemitgliedern, die oft in mehreren kleineren Rollen auftreten, hallen Robert Wörle s intriganter Incredibile und Máté Sólyom-Nagy s Mathieu am meisten nach. Nils Sträfe, Juri Batukov und Gregor Loebel ergänzen den Solistenreigen vortrefflich. Der Chor hat viel zu tun und ist glänzend aufeinander und die Musiker im Graben abgestimmt. Die setzen sich aus dem Philharmonischen Orchester Erfurt und der Thüringer Philharmonie Gera zusammen und werden von Enrico Calesso, GMD am Mainfrankentheater in Würzburg, geleitet. Der hat vor allem Spaß an den musikalisch bombastischen Stellen der Partitur und kostet diese voll aus, wird aber beispielsweise im dritten Akt zum ebenso sensiblen Begleiter von Maddalena und Madelon bei deren Arien. So zeigt er Giordanos farbenreiche Musik von ihrer besten Seite und erhält zum Schluss enormen Zuspruch nicht nur vom Publikum, sondern auch vom Sängerensemble.

Am Ende gibt es lang anhaltenden Applaus von Zuschauern aller Altersklassen, die erfreulicherweise an diesem Sonntagnachmittag das Theater Erfurt besucht haben. Alle Künstler erhalten einhelligen Beifall. Das Werk und dessen Umsetzung haben gefallen. Da ist es um so bedauerlicher, dass diese überzeugende, opulente und bildgewaltige Produktion nur fünf Mal in Thüringen auf dem Spielplan stand.

Ihr Jochen Rüth 21.06.2015

Bilder: Theater Erfurt

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