Darmstadt: „Der Freischütz“

Aufführung: 7.11.2015

Premiere: 19.6.2015

Beziehungsdrama mit psychologischem Einschla

Von großer Eindringlichkeit war schon die Eingangsszene aus der bereits vergangenen Juni aus der Taufe gehobenen Neuproduktion von Webers „Freischütz“ am Staatstheater Darmstadt: Agathe packt ihre sieben Sachen, zieht ihr Brautkleid aus und verlässt die Bühne. Der am Rand stehende Max kann nichts dagegen machen. Das hier nicht glückliche Ende wird vorweggenommen. Das Folgende erzählt Eva Maria Höckmayr als Rückblende. Im Focus steht das Geschehen zwischen dem Polterabend des Paares und dem verhängnisvollen Probeschuss. Dabei folgen die Regisseurin und ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Julia Rösler nicht etwa althergebrachten Aufführungskonventionen, sondern entwickeln eine ganz eigene Sichtweise auf das Werk.

Ensemble

Frau Höckmayr verortet die Handlung geschickt in der Gegenwart und macht aus dem Geschehen ein groß angelegtes Beziehungsdrama mit starkem psychologischem Einschlag. Sie hat eine eigene Textfassung erstellt, die die Dialoge und Szenenanweisungen von Librettist Friedrich Kind um Auszüge aus der zugrundeliegenden Novelle von Johann August Apel ergänzt. Die Vorlage Apels mit den Hauptpersonen Wilhelm und Kätchen wird als eigenständige Schauergeschichte in die Opernhandlung integriert und von der Dorfautorität, die im ersten und zweiten Aufzug mit dem schwarzen Jäger Samiel identifiziert wird, zum Besten gegeben. Immer wieder werden seine Augen auf den Hintergrund projiziert. Er ist allgegenwärtig. Den versöhnenden Ausgleich bewirkt zum Schluss wiederum die Autorität des Dorfes, dieses Mal aber in der Maske des Eremiten. Eine dritte Respektperson stellt der Ahnherr dar, der in der letzten Szene gleichsam aus seinem Bild heraustritt und zum Fürsten Ottokar mutiert. Diesem wurden am Ende einige gesungene Passagen weggenommen und dem alten Förster Kuno in den Mund gelegt.

Für die Zwischentexte hat

Martin Baumgartner, der auch für die Videos verantwortlich zeigte, eine stimmungsvolle Atmosphärenmusik komponiert. Dieses Vorgehen der Regisseurin macht durchaus Sinn, gegen das Stück wird trotz einiger von der Vorlage abweichenden Änderungen nicht verstoßen. Max ist in der Deutung von Eva-Maria Höckmayr ein Kriegsheimkehrer – womöglich aus Afghanistan -, der schon in der Vergangenheit schwere Schuld auf sich geladen hat. Worin diese besteht, erweist sich in der Wolfschlucht: Er hat einige unschuldige Soldaten erschossen. Diese Szene hat mit der traditionellen Schauerromantik nichts mehr gemeinsam, sondern entspringt voll und ganz dem Inneren Agathes. Ihr ist bereits zu Beginn, als man sich an der riesigen Familientafel trifft, klar, dass ihre Liebe zu Max gefährdet ist und versucht diese zu retten. Sie versteht seine Handlungsweise nicht und will dieser auf einer inneren Reise in die Wolfsschlucht auf den Grund gehen. Diese hat, wie gesagt, nichts Reales, sondern ist als Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche aufzufassen – eine treffliche, an Sigmund Freud angelehnte Deutung.

Agathe hat eine Ahnung, dass in ihrem Bräutigam etwas Schlimmes schlummert, will das aber nicht wahrhaben. Vielmehr bringt sie in einer Vision den hier durchaus nicht böse gezeichneten Kaspar damit in Verbindung. Wenn sie gleich darauf aber in einer traumhaften Sinnestäuschung beobachten kann, wie Max ganz allein die Freikugeln gießt, erkennt sie schlagartig, dass sie sich irrt. Es ist eine schreckliche Erkenntnis, die sie da gewinnt und die sie letztlich nicht bewältigen kann. Max erfährt hier eine negative Deutung, während Kaspar als Bösewicht rehabilitiert wird. Von Anfang an erscheint er eigentlich gar nicht unsympathisch. Er ist oft im Försterhaus anwesend und bei den Mädchen anscheinend nicht mal so ungern gesehen. Insbesondere Ännchen scheint Interesse an ihm zu haben. Das ist allerdings nicht mehr neu. Man hat es in Bettina Lells Pforzheimer Inszenierung von 2009 ähnlich gesehen.

Renatus Mészár (Kaspar), Mark Adler (Max), Chor

Am Ende erkennt Agathe, dass sie dem von der siebten Freikugel tödlich getroffenen Kaspar Unrecht getan hat und kümmert sich um den Sterbenden. Sie schenkt ihm sogar größere Aufmerksamkeit als Max, der die Kollision seiner früheren Untaten mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren kann und auf der ganzen Linie scheitert. Seine Aggressionen gegen seinen alten Kriegskameraden Kaspar wirken nicht berechtigt und entspringen augenscheinlich aus dessen Mitwisserschaft um Max’ Schuld. Nachhaltig projiziert dieser seine Ängste auf Kaspar, bleibt innerlich aber dennoch immer allein. Das letzte Bild zeigt das Liebespaar, wie es sich fragend anblickt. Das unglückliche Ende lässt sich erahnen. Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, dass Agathe ihren Verlobten verlässt. Das ist eine sehr interessante Neudeutung, mit der Frau Höckmayr hier aufwartet. Ihre Rechnung ist voll aufgegangen. Das häufige Kreisen der Drehbühne versinnbildlichte dabei das ganze emotionale Chaos der Protagonisten.

Insgesamt solide waren die gesanglichen Leistungen. Mark Adler hatte die regieliche Anlage des Max gut verinnerlicht und mit intensivem Spiel überzeugend umgesetzt. Gesanglich ließ sein nicht tief genug fokussierter Tenor indes Wünsche offen. Da war es um die Agathe von Susanne Serfling schon besser bestellt. Sie verfügt über einen Sopran, der zwar nicht allzu groß, aber gut verankert ist und in allen Lagen ansprechend geführt wird. Auch darstellerisch hat sie die Ängste und die Verzweiflung der Försterstochter trefflich umgesetzt. Ein frisch und herzhaft, dabei mit guter Stütze ihres ansprechenden Soprans singendes Ännchen war Jana Baumeister. Renatus Mészár vom Badischen Staatstheater Karlsruhe gab den Kaspar ganz im Einklang mit der Regie nicht als herkömmlichen Bösewicht, sondern als guten alten Kameraden von Max. Stimmlich zeigte er sich prägnant und ausdrucksstark. Thomas Mehnert sang den Kuno recht robust. Etwas mehr Stimmkraft hätte man sich von David Pichlmaier s Ottokar (Ahnherr) gewünscht. Dieser junge Bariton ist noch entwicklungsfähig. Nur über dünnes Tenormaterial verfügte der Kilian von Andreas Wagner. Als Eremit (zweite Autorität im Dorf) erbrachte Stephan Bootz eine ordentliche Leistung. In der Sprechrolle des Samiel (erste Autorität im Dorf) machte Andreas Wellano auf sich aufmerksam. Gut gefiel der von Thomas Eitler-de Lint einstudierte Opernchor des Staatstheaters Darmstadt.

Renatus Mészár (Kaspar), Jana Baumeister (Ännchen), Susanne Serfling (Agathe)

Eine solide Leistung ist Michael Nündel am Pult zu bescheinigen. Er hatte das sicher und versiert aufspielende Staatsorchester Darmstadt sicher im Griff und animierte es zu einem abwechslungsreichen, differenzierten und nuancenreichen Spiel, wobei das düstere Element überwog.

Ludwig Steinbach, 9.11.2015

Die Bilder stammen von Candy Welz